
Tono – Heimat der Volksmärchen
Die Stadt Tono in der Präfektur Iwate im Nordosten Japans ist vor allem als Heimat zahlreicher Volksmärchen, alter Sagen und geheimnisvoller Geschichten über Geister, Dämonen und andere Fabelwesen bekannt. 119 dieser über viele Generationen hinweg mündlich überlieferten Geschichten wurden vor fast 100 Jahren gesammelt und in dem Buch Tono Monogatari („Die Sagen von Tono“) veröffentlicht. Dieses Werk bildete zugleich den Ausgangspunkt für die Volkskunde in Japan. Eine knapp vierstündige Zugfahrt mit dem Shinkansen von Tokyo entfernt (mit einem Umstieg im Bahnhof Shin-Hanamaki), bieten die Stadt Tono und ihre Umgebung dem Besucher noch heute eine große Vielfalt an landschaftlicher Schönheit: von nebelverhangenen Bergen bis hin zu schmalen Pfaden, die sich zwischen Reisfeldern winden. Wer in diese Landschaft eintritt, hat sofort das Gefühl, als sei er in die Welt der Volksmärchen eingetaucht.
Die Sagen von Tono: Ursprung der japanischen Volkskunde
Die Stadt Tono liegt in einem von Bergketten eingerahmten Becken etwa 40 km westlich der Pazifikküste. Diese Region wurde vom schweren Erdbeben und dem Tsunami im März 2011 besonders hart getroffen. Seit dem Erscheinen der „Sagen von Tono“, einer Sammlung von kurzen Geschichten über Ereignisse, Überlieferungen und Bräuche in der Region Tono im Jahr 1910 ist diese Stadt in ganz Japan als Heimat der japanischen Volkskunde bekannt. Die Stadt selbst blieb von den Umwälzungen, die während der Ära des raschen Wirtschaftswachstums in Japan das ganze Land erfassten, größtenteils verschont. Dadurch bietet Tono dem heutigen Besucher noch eine ganze Reihe von Ansichten, die an alte Zeiten erinnern. Der Volkskundler und Herausgeber der Sagen von Tono, Kunio Yanagita (1875-1962), gilt allgemein als Begründer der Volkskunde in Japan. Im Vorwort zu dem Werk heißt es: „Im Umkreis von 40 km um die Stadt Hanamaki gibt es nur drei Städte. Die übrige Region besteht aus grünen Bergen und offenen Feldern.“ Diese Landschaft, die in einer knapp einstündigen Zugfahrt vom Bahnhof Shin-Hanamaki aus erreichbar ist, sieht vom Fenster der langsam fahrenden Züge aus betrachtet selbst wie der Prolog zu einer Erzählung aus – ein Prolog aus Bergen und Wäldern, die gemächlich am Betrachter vorbeigleiten.
Tono erlebte einst eine Blütezeit als Burgstadt und Rastplatz für Reisende, die zwischen dem Innern des Landes und der Küste reisten. Heute birgt die Stadt viele Orte, die es dem Besucher noch immer ermöglichen, sich ohne Weiteres vorzustellen, wie sich das Leben hier vor hunderten von Jahren gestaltete.
Elf Kilometer westlich vom Bahnhof Tono entfernt befindet sich das Anwesen der Familie Chiba, das als wichtiges Kulturgut des Landes registriert ist. Das Haus ist ein Bauernhaus im sogenannten nambu magariya-Stil. Seine besondere Bauweise, die aus der Vogelperspektive wie ein L aussieht, und bei der das Wohngebäude an den Pferdestall stößt, war bis vor fünfzig Jahren in dieser Region allgemein verbreitet. Das Anwesen ist rund 200 Jahre alt und erinnert ein wenig an ein Schloss. Die Grundfläche beträgt 550 m2 und beherbergte früher bis zu 25 Personen und zwanzig Pferde. Menschen und Tiere lebten somit unter einem Dach. Die kalten und schneereichen Wintermonate trugen dazu bei, dass die Menschen in dieser Region ihre Pferde quasi als Familienmitglieder betrachteten.

Kappa – in ganz Japan bekannte Fabelwesen
Von den 119 Geschichten in den „Sagen von Tono“ behandeln viele Phänomene, die in engem Zusammenhang mit der natürlichen Umwelt oder Naturkatastrophen stehen, wie etwa Geister, Dämonen oder Gottheiten. In einem Klima, bei dem das Thermometer im Winter oft auf -20° C und tiefer fällt, spiegeln diese Geschichten einerseits die enge Verbundenheit der Menschen dieser Region mit der Natur, anderseits aber auch die Verehrung sowie Furcht vor ihr wider.

Ein weiterer Ort von besonderem Interesse ist der Kappabuchi-Teich, der 11 km nordöstlich vom Bahnhof Tono liegt. Kappa sind Fabelwesen, die im Wasser leben und Schwimmhäute an Händen und Füssen haben sollen. Ihnen wird ein eher schelmischer Charakter nachgesagt: so verleiten sie gerne Kinder zu Ringkämpfen oder locken Pferde ins Wasser. Kappa kommen in fünf der Sagen von Tono vor und sind daher heute ein bekanntes Symbol dieser Volkssagen. Man findet sie auch in der Umgebung der Stadt, wo sie als Kunstobjekte aufgestellt wurden, aber natürlich auch als Souvenirs in den Andenkenläden. Auf den ersten Blick erscheint der Kappabuchi-Teich wie ein flacher Bach. Wenn man aber etwas genauer auf das dichte kumazasa (eine Bambusgras-Art) am anderen Ufer späht, glaubt man fast, dass jeden Moment ein listiger Kappa auftauchen wird.
Eine Sehenswürdigkeit, die ganz in der Nähe des Kappabuchi-Teichs liegt und die man auf keinen Fall versäumen sollte, ist die Oshirado-Halle. Dieses Gebäude befindet sich in Denshoen, einer Touristenattraktion, die dem Besucher das traditionelle Leben und Arbeiten auf einem Bauernhof in der Region Tono zeigt. Oshirado beherbergt rund eintausend Puppen, die an die Sage von Oshira-sama erinnern, ein Puppenpaar, von denen eine Puppe die Form einer Frau und die andere die Form eines Pferdes hat. Der Sage zufolge verliebte sich einst eine Frau so sehr in ein Pferd, dass sie es zu ihrem Ehemann machte. Nach dessen Tod stieg die Frau in den Himmel hinauf, um ihm dorthin zu folgen. Gekleidet in bunt leuchtende Kleider bedecken die Puppen die Wände der Halle und bieten einen ganz besonderen Anblick.

Darüber hinaus gibt es in der Nähe eine ganze Reihe weiterer Sehenswürdigkeiten. Dazu zählen auch Unedorisama, ein kleiner Schrein, von dem es heißt, dass Frauen dort ihre Wünsche zu ihrem Liebesglück vortragen können, sowie die Gohyaku Rakan Figuren, die von einem Mönch zum Gedenken an eine schwere Hungersnot vor 200 Jahren in Steine geritzt wurden.
Hanamaki – Quellbäder für die Gesundheit und die lokale Küche
In Tono wird auch doburoku, eine Art trüber Reiswein oder sake gebraut. 2003 verlieh die japanische Regierung dieser Region erstmals den Rang einer Sonderzone, in der auch Privatpersonen doburoku und damit alkoholische Getränke selbst herstellen dürfen. Heute gibt es in der Stadt vier Brauereien, in denen dieser Reiswein produziert wird und die alle danach streben, ihre ganz eigene Kreation zu brauen.
Während der kalten Wintermonate wärmen sich die Menschen in dieser Region durch den Verzehr von hittsumi (Weizenklöße) auf, die durch Kneten, Strecken und Reißen von Weizenmehlteig hergestellt werden. Diese Klöße werden dann in einer Brühe zusammen mit Gemüse und Pilzen gekocht. Eine weitere Spezialität der lokalen Küche ist Jingisukan (Dschingis Khan) oder gebratenes Lamm- bzw. Hammelfleisch. Das Fleisch wird in kleinen runden Pfannen zubereitet und dann in shoyu tare (eine Suppe aus Sojasoße) getunkt. Dieses Gericht ist erstmals vor rund sechzig Jahren in dieser Region entstanden.

Vom Bahnhof Tono aus ist man mit dem Schnellzug in einer Stunde im Hanamaki Onsen-kyo, einer Gruppe von zwölf heißen Quellen, die alle für ihr hochwertiges Quellwasser bekannt sind. Nach dem Eintauchen in ein rotenburo (ein heißes Quellbad unter freiem Himmel) erfreuen sich viele Besucher an einer lokalen Spezialität, die hakkinton („Platinschwein“) genannt wird. Die Schweine werden auf Höfen gezüchtet, in deren Umgebung sich viele Quellen finden, deren Wasser reich an Mineralien ist. Das Fleisch dieser Schweine ist für seine feine Maserung und seinen süßen Geschmack bekannt und stellt selbst ausgewiesene Gourmets zufrieden.

Als Andenken an die Reise nach Tono und Hanamaki bietet sich ein Stück traditionelle Handwerkskunst an, wie z.B. ein Nambu Tekki Wasserkessel, eine aus der Region stammende Eisenware. Diese Kessel werden bei Temperaturen von bis zu tausend Grad Celsius hergestellt und zeichnen sich durch ihr rustikales Design aus, das niemals aus der Mode kommt.
Ein weiteres Mitbringsel, bei dem man nichts falsch machen kann, sind Akegarasu Süßigkeiten. Akegarasu ist eine Süßspeise, die eng mit Tono verbunden ist und wörtlich „Morgenkrähe“ bedeutet. Die Speise erhielt diesen Namen, weil die darin enthaltenen Wallnüsse, wenn die Speise in Scheiben geschnitten wird, an fliegende Vögel erinnern.

Bei einem Besuch in Tono ist eines sicher: Der Besucher wird eine neue anziehende Seite Japans entdecken, die man in den großen Städten des Landes vergeblich sucht.
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