
Wagashi – traditionelle japanische Süßigkeiten als eine „Kunst der fünf Sinne“
Wagashi sind traditionelle japanische Süßigkeiten, die auch als eine „Kunst der fünf Sinne“ gelten. Mit ihrem wunderschönen Design, ihrer delikaten Süße und ihrem außerordentlichen Wohlgeschmack bieten sie gleichsam Schicht für Schicht immer wieder neuen Genuss. Jede einzelne kleine Süßigkeit stellt gleichsam eine jahreszeitliche Szenerie dar, etwa einen Fisch, der im klaren Wasser eines Flusses schwimmt, leuchtende Sterne am Nachthimmel oder eine in hellem Sonnenlicht gleißende Küste. Die handwerkliche Kunstfertigkeit der Wagashi-Konditoren wurde über viele Generationen hinweg weitergegeben und erfreut sich bis heute hoher Wertschätzung. Gleichzeitig treten aber immer wieder Beispiele für völlig neue Kreationen hervor, die sich mutig den Herausforderungen der sich wandelnden Zeiten und Vorlieben stellen. Und auch die Übernahme von Techniken und Zutaten aus der westlichen Konditoreikunst wirkt gleichsam wie eine frische Brise und trägt mit neuen Kreationen zur Weiterentwicklung der Kunst der wagashi bei.

Motive nach Vorbildern aus der Natur
Traditionelle wagashi werden in der Regel aus sehr einfachen Zutaten zubereitet, nämlich Zucker, Reismehl, Agar (Gelatine) und Obst. Ihren Ursprung haben diese Süßigkeiten in rustikalen Süßigkeiten, wie z.B. Reiskuchen und Klößen, die aus geknetetem Mehlteig hergestellt werden. Durch vielfältige Einflüsse, darunter auch Handelsbeziehungen zum Ausland, etwa mit China oder in der Neuzeit mit Portugal und Spanien, sowie durch die Einbindung der wagashi in die Teekultur (sado) haben sich diese schließlich zu ihrer heutigen Gestalt weiterentwickelt. Ein besonderes Charakteristikum von wagashi ist die Kunst, die jeweilige Jahreszeit sowie eine Vielzahl von Motiven aus der Natur im Kleinen nachzubilden. Dazu zählen beispielsweise Blumen und Gräser oder Bergbäche, manchmal aber auch das ganze Universum.
Kinton z.B. ist eine Sorte von wagashi, die aus kleingehacktem süßem Bohnenmus (an) aus Azuki- oder Kidneybohnen hergestellt wird und sich je nach Jahreszeit in unterschiedlichen Farben präsentiert. An Neujahr etwa denken die Menschen in Japan oft an frische Sprösslinge, die aus dem Schnee heraus auftauchen. Dieser Effekt wird erreicht, indem für die wagashi weißes und grünes an verwendet wird. Im Frühjahr künden dann wagashi in der Gestalt der kräftigen Blütenblätter der japanischen Pflaume (ume) den nahenden Frühling an. Und noch während die Sommerhitze andauert, vermittelt der Anblick von wagashi in der Gestalt herbstlicher Glockenblumen ein erstes Gefühl der bald beginnenden angenehmen Kühle des Herbstes. Im November schließlich wird oft weißer Puderzucker verwendet, um an den winterlichen Schnee zu erinnern.
Es sind aber nicht nur Szenen aus der Natur, die als Motive für die Herstellung von wagashi dienen. Vielmehr dienen auch bestimmte Begriffe, die in den bekannten japanischen Haiku-Gedichten auf die jeweiligen Jahreszeiten verweisen, Zitate aus der klassischen Literatur des Landes, bekannte Stätten aus der Geschichte Japans und vieles andere mehr als Inspiration für die Herstellung von wagashi. Eine Unterhaltung über diese oft nur angedeuteten Hintergründe und das Austauschen von sich daraus ergebenden Anekdoten, stellen – während man gleichzeitig die visuelle Schönheit der Kreationen genießt – eines der vielen Vergnügen dar, die die Menschen in Japan mit dem Genuss von wagashi verbinden.

Handwerkliche Fähigkeiten in höchster Vollendung
Es gibt heute etwa 80.000 Wagashi-Konditoren in Japan. Unter ihnen finden sich viele wahre Meister ihres Fachs, die sowohl ausgesprochene Kreativität als auch technisches Geschick auf höchstem Niveau miteinander verbinden. Dies gilt nicht allein hinsichtlich des Geschmacks, sondern auch mit Blick auf das Design, die Farbgestaltung und das Dekorieren ihrer Kreationen. Dabei können sie auf ein breites Spektrum traditioneller Fertigkeiten zurückgreifen, um ihre auch als kōgei gashi („Kuchenkunst“) bekannten Meisterwerke zu kreieren. Ihre Handwerkskunst kann fast schon als eine besondere Form der bildenden Kunst aufgefasst werden. So benutzen die japanischen Wagashi-Meister spezielle Werkzeuge, um aus einfachen Zutaten wie Bohnenmus, Zucker und Reismehl kunstvolle Landschaften in allen vier Jahreszeiten zu zaubern. Manche Kreationen ahmen sogar die feinen Farbnuancen einzelner Blütenblätter oder des herbstlichen Laubs nach.

Eine besondere Form von wagashi sind Nachbildungen von Sushi-Gerichten, die ausschließlich aus Zutaten für wagashi zubereitet werden. Ihr Anblick fasziniert gerade auch durch die naturgetreue und detailreiche Nachbildung. Wohl nicht wenige Besucher eines Sushi-Restaurants würden diese Kreationen für echte sushi halten und gerne einmal probieren wollen.
Der „Thunfisch“, der die Auflage für den Sushi-Reis bildet, wird aus süßem rotem Bohnenmus in der Geschmacksrichtung ume (Japanische Pflaume) hergestellt. Für den „Meeraal“ wird Sojamehl mit einem Sirup aus gekochtem braunen Zucker verwendet, der wie eine Tare-Soße aussieht. Diese Kreationen sehen aus wie sushi, schmecken aber wie wagashi – ein Gegensatz, der den Weg in eine Dimension des Geheimnisvollen eröffnet.
Jenseits der Grenzen der Tradition
Als besonders gesunde Produkte, die ausschließlich aus kalorienarmen Zutaten wie roten Bohnen und Reismehl hergestellt werden, waren wagashi lange Zeit eine echte Alternative zu westlichen Konditoreiprodukten, die oft viel Sahne oder Butter enthalten. In den letzten Jahren findet man jedoch immer öfter Kreationen, die die traditionellen Grenzen überschreiten und Methoden sowie traditionelle Zutaten von wagashi und westlicher Konditoreikunst miteinander kombinieren.
Neuerdings werden auch wagashi, die eigentlich auf eine lange eigenständige Tradition zurückblicken können, wie z.B. yōkan (süßes Bohnengelee) mit Rumgeschmack und getrockneten Früchten angeboten; sie eignen sich ganz ausgezeichnet als Beilage zu Kaffee oder Wein. Ein anderes Beispiel sind wagashi in Form eines Kastenkuchens mit Zitronen als Füllung, eine Zutat, die für wagashi eher selten verwendet wird. Traditionelle wagashi, die für die Teezeremonie verwendet werden, zeichnen sich nämlich durch ihren dezenten Geschmack und ein feines Aroma aus. Aus diesem Grund waren die vielen verschiedenen Beerensorten oder Zitrusfrüchte mit ihrem hohen Säuregehalt, die in den Kuchen der westlichen Konditorenkunst so zahlreich Verwendung finden, bislang kaum in wagashi zu entdecken. In den letzten Jahren gibt es aber auch immer mehr wagashi mit entsprechenden westlichen Zutaten wie etwa Aprikosen und Pfirsiche.

Auf der anderen Seite kann man auch viele Beispiele dafür finden, wie wagashi die westliche Konditorei beeinflussen. In Frankreich etwa findet man nun auch Schokoladengebäck mit dem Aroma der Yuzu-Frucht, einer aus Asien stammenden Zitrusfrucht, mit Sesam oder sogar wasabi (scharfer japanischer Rettich); für kleine Törtchen (Mont Blanc) verwendet man mittlerweile auch grünen Tee und rote Bohnen. Und Makronen werden mit braunem Reistee oder anderen Zutaten hergestellt. Auch kommen immer mehr Menschen aus Europa oder Amerika nach Japan, um hier die Kunst der Herstellung von wagashi zu erlernen.
Es ist ein großes Vergnügen, den Geist einer Handwerkskunst zu spüren, die sich nicht scheut, beim Kreieren immer neuer Formen von wagashi Elemente unterschiedlicher Herkunft miteinander zu kombinieren.
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