Neues aus Japan Nr. 143 | Oktober 2016
Kultur
Traditionelle Süßigkeiten und die Kultur des Schenkens
Hochzeiten, Beerdigungen und andere Feste sind immer auch Zeiten des Gebens von Geschenken. In Japan gibt es darüber hinaus viele weitere Gelegenheiten für das Machen von Geschenken, etwa bestimmte Feste zu den einzelnen Jahreszeiten, die Rückkehr von einer Reise oder einfach, um Dankbarkeit, eine Entschuldigung oder einen Gruß zum Ausdruck zu bringen. Auch überreicht man ein Geschenk, um jemanden um einen Gefallen zu bitten oder um jemanden für ein Geschenk zu danken, von dem man zuvor selbst beschenkt wurde. Süßigkeiten gelten seit alters her als sehr geeignet für ein Geschenk, um anlässlich besonderer Ereignisse im Leben Wertschätzung zu bekunden.
(Beitrag: Noritake Kanzaki, Fotos: Hitomi Takahashi)
Am Anfang stand das Teilen von Reiskuchen (mochi)
Ein Blick zurück zu den Ursprüngen des Brauchs, Süßwaren zu verschenken, führt uns zu den Reiskuchen (mochi). Hergestellt aus gedämpftem und gestampftem Klebreis, waren mochi ein wesentlicher Bestandteil der Feste, mit denen die Menschen sich für eine gute Ernte bedankten. Zugleich waren sie die üblichen Opfergaben bei Beerdigungen sowie bei Gedenkfeiern für die Vorfahren. Sobald diese Feiern vorüber waren, wurden die mochi an die Teilnehmenden verteilt und gemeinsam verzehrt. Dies spielte eine wichtige Rolle für die Festigung der Beziehungen aller Anwesenden untereinander.
Mit süßer Bohnenpaste gefüllte mochi (bota-mochi oder o-hagi genannt) werden noch heute zu den higan-Festlichkeiten zur Zeit der Frühlings- sowie Herbst-Tagundnachtgleiche gegessen, wenn man in Japan die Familiengräber besucht und den Seelen der Vorfahren Opfergaben darbringt. Dieser Brauch entwickelte sich zu einer weiteren Gelegenheit, bei der man gemeinsam mochi isst. Insbesondere in den Dörfern auf dem Land nahmen sich die Menschen früher noch Zeit und stellten in Handarbeit eine große Zahl von bota-mochi her, um diese dann an Verwandte und Nachbarn sowie an Menschen zu verteilen, mit denen man in irgendeiner Beziehung stand. Dieser Brauch ist heutzutage nur noch selten zu beobachten, aber noch vor zwanzig oder dreißig Jahren war er häufiger verbreitet, wie das Sprichwort „Higan no bota-mochi – ittari kitari“ (Bota-mochi kommen und gehen während der higan-Feste) belegt.
Etwas Süßes – das bestmögliche Geschenk
Süßwaren wären ohne Zucker nicht süß. Als Anfang des 8. Jahrhunderts Zucker erstmals aus China nach Japan gelangte, schrieben die Menschen ihm auch eine heilende Wirkung zu und machten ihn so zu einer wertvollen Handelsware. In den höheren Kreisen der Gesellschaft diente er sogar selbst oftmals als Geschenk. In der frühen Moderne gelangten dann durch den Handel mit den Niederlanden erstmals größere Mengen Zucker ins Land, die jedoch nicht ausreichten, um ihn zu einer allgemein verbreiteten Zutat in der Küche zu machen. Viele Jahre lang blieb Zucker somit weiter ein Produkt, von dem die meisten Japaner nur träumen konnten.
Die Herstellung von Zucker in Japan selbst nahm im 17. Jahrhundert ihren Anfang, etwa zu Beginn der Edo-Zeit (1603-1867), einer Periode des Friedens und größeren Wohlstands. Während dieser Zeit breitete sich auch das Trinken von Tee allgemein aus, und mit dem Tee kamen allmählich immer mehr mochi Snacks und süße Backwaren auf. Viele von ihnen finden sich noch heute unter den traditionellen Süßigkeiten.
Die Feudalfürsten (daimyo) jener Zeit kamen in der Hauptstadt Edo zusammen und nahmen in einer großen Empfangshalle im Schloss von Edo an der kajo-Zeremonie teil, bei der der Shogun eigenhändig große Mengen von Süßwaren anbot. Die Ursprünge dieser Zeremonie reichen bis in die Zeit zurück, als der Kaiserhof und die einfache Bevölkerung den Gottheiten am 16. Juni Süßwaren darreichten in der Hoffnung, damit Unglück abzuwenden. Unter der Herrschaft des Shoguns wandelte sich dieser Brauch zu einem Event, bei dem besondere Spezialitäten in Form von süßen Speisen gereicht wurden, wenn die daimyo dem Shogun Treue schworen.
Binnen Kurzem veranstalteten auch die daimyo ähnliche Zeremonien und suchten sich dabei gegenseitig bei den Geschenken zu übertreffen. So entwickelten sich auch Süßspeisen zu hochwertigen Geschenken wie etwa Sake oder Seide. Einer höher gestellten Persönlichkeit ein Geschenk zu machen führte allerdings dazu, dass man umgehend ein Gegengeschenk erhielt. Dies stieß einen ständigen Kreislauf von Geschenken an, der eine Art Nischen-Wirtschaft ins Leben rief: einen Handel mit Geschenken, für die die daimyo keine wirkliche Verwendung hatten.
Bild: Links: Eine Schachtel mit traditionellen Süßigkeiten, eingeschlagen in weißes Papier, mit einer noshi Dekoration (in der rechten oberen Ecke) sowie einer roten und weißen mizuhiki Schnur. Die Schleife ist in einer Form des kaeshi musubi Knotens gebunden, bei dem die Schnur zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Damit wird der Wunsch nach Glück und Erfolg zum Ausdruck gebracht.
Rechts: Mit süßem Bohnenmus gefüllte manju Kuchen übermitteln selbst eine einfache schriftliche Botschaft. Vorne: Die identischen kanji bedeuten kotobuki („Glückwunsch!“). Hinten: Manju mit dem Namen eines Ortes und dem Symbol eines heißen Quellbades.
Reiseerinnerungen miteinander teilen
Unter der einfachen Bevölkerung waren früher Pilgerreisen sehr beliebt, die insbesondere zu den Schreinen von Ise und Konpira führten. Bei der Rückkehr brachte man dann Souvenirs mit, am liebsten hi-gashi (ein getrocknetes Konfekt, das mit Zucker gehärtet wird) sowie sho-ga (Ingwersaft, der so lange eingekocht wird, bis er hart geworden ist), da teurere Süßspeisen aus reinem Zucker für die meisten Menschen noch unerschwinglich waren. In kurzer Zeit entwickelten sich manju (kleine mit süßem Bohnenmus gefüllte Kuchen aus Reismehl) mit eingebrannten Schriftzeichen oder Motiven zu Verkaufsschlagern. Halbrunde manju mit einem eingebrannten Symbol auf der glänzenden Oberseite wurden auf diese Weise zu einem einzigartigen Objekt, das bis heute unverändert verwendet wird, um eine besondere Erinnerung hervorzurufen oder etwas anzupreisen. Vielleicht findet man in keinem anderen Land eine so große Auswahl an Snacks und Süßspeisen, die mit Bildern und Schriftzeichen verziert sind, wie in Japan.
Die Verpackung als Ausdruck des Gefühls hinter dem Geschenk
Überreicht man eine Süßigkeit als formelles Geschenk, schreibt die Etikette eine Verpackung vor, die den Anlass des Geschenks signalisiert, also entweder einen festlichen Anlass oder Anteilnahme. Dies wird durch die Auswahl des Papiers zum Ausdruck gebracht, in das das Geschenk eingeschlagen wird, zusammen mit einer noshi Dekoration als besonderer Note und einer mizuhiki Schnur zum Festbinden. Noshi haben ihren Ursprung in dem Brauch einer Gabe in Form eines Streifens getrockneter Abalone bei religiösen Feiern, während mizuhiki feine Schnüre aus buntem japanischen Papier sind.
Auf diese Weise ist die formelle Verpackung eines Geschenks von Süßem mehr als bloß ein Schutz – sie drückt auch die Gefühle des Schenkenden aus. Die Kunst des Schenkens, die sich in Japan ausgebildet hat, beinhaltet eine äußerst feine Sensibilität, die als ein Charakteristikum der Kultur des Landes gesehen werden kann.
(Noritake Kanzaki ist Direktor des Instituts für die Kultur des Reisens und ein Experte auf dem Gebiet der Folklore, Gastprofessor an der Tokyo University of Agriculture und Experte im Rat für kulturelle Angelegenheiten der Agency for Cultural Affairs der Regierung von Japan. Zu seinen Werken zählen u.a.: Gift Giving and Travel in Japanese Culture sowie Etiquette in Japanese Culture.)
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