
Bericht einer Teilnehmerin am JET-Programm:
Als CIR im Vogelnest
Jedes Jahr Anfang August machen sich junge deutsche Hochschulabsolventen auf den Weg nach Japan, um sich für die Internationalisierung Japans zu engagieren. Dies geschieht im Rahmen des Japan Exchange and Teaching (JET) Programms, mit dem jährlich ca. 4500 junge Menschen aus fast 40 Ländern hauptsächlich als Assistenz-Sprachlehrer in Schulen arbeiten bzw. in Rathäusern oder Präfekturverwaltungen außerhalb der großen Zentren wie Tokyo oder Osaka im Bereich Internationale Beziehungen assistieren.
Zurzeit arbeiten zwei Assistenz-Deutschlehrer und 11 deutsche Koordinatoren für Internationale Beziehungen (CIR) in Japan. Inzwischen gibt es aber auch schon über 240 ehemalige deutsche Teilnehmer am JET-Programm, von denen auch in den nächsten Monaten noch einige zu Wort kommen sollen.
Diesen Monat stellen wir Ihnen den Bericht von Ingrid Harke vor, die von 2003 bis 2005 als CIR in Tosu auf Kyushu tätig war:
Im August 2003 pralle ich auf dem Flughafen von Saga gegen eine Wand aus Luftfeuchte und Schwüle und beginne mein neues Leben als CIR auf der südlichen Insel Kyushu. Ähnlich wie anderen JET-Kollegen war mir der Name meines künftigen Einsatzortes vor kurzem noch völlig unbekannt: Tosu. Ein Städtchen mit 60.000 Einwohnern in der Präfektur Saga. Die Schriftzeichen für Tosu bedeuten „Vogelnest“ und in der Tat kuschelt sich der Ort idyllisch in schöne Natur am Fuße von Bergen. Als Verkehrsknotenpunkt der zwei großen Autobahntangenten und des Schienennetzes auf Kyushu ist Tosu aber auch ein begehrter Industriestandort. Fukuoka, die größte Stadt auf Kyushu, ist nur 30 Autominuten entfernt. Ein Glück, dass ich das Auto meiner Vorgängerin übernehme!
Am Flughafen von Saga nehmen mich meine zukünftigen Kollegen von der Stadtverwaltung Tosu in Empfang und in ihre Obhut. Sie umsorgen mich, mein Betreuer eilt unterstützend mit zur Eröffnung von Bankkonten und zum Abschluss von Handyverträgen.
Die nächsten zwei Jahre vergehen wie im Fluge. Ich bin der Abteilung für Kultur- und Öffentlichkeitsarbeit zugeteilt und übersetze Korrespondenzen und Broschüren, gebe Englisch- und Deutschkurse für die Einwohner, erzähle Grund- und Mittelschülern von Deutschland. Für die ortsansässigen Wirtschaftsjunioren oder Delegationsreisende der Präfekturverwaltung halte ich Seminare zu deutschland- und europaspezifischen Themen wie Geschichte, Ausbildungssystem, Europäische Union und kulturelle Unterschiede.
Schwerpunkt meiner Arbeit ist jedoch die Städtefreundschaft mit dem sachsen-anhaltinischen Zeitz. Ihr Grundstein ist ein Konzertflügel, den der Frauenverein Tosu 1930 von der Zeitzer Pianomanufaktur Hupfer & Comp. erwarb. Berühmt wurde das Instrument durch den 1992 gedrehten Film „Mondscheinsommer“, in dem zwei junge Piloten einer Kamikaze-Staffel aus der Kaserne Metabaru vor ihrem Einsatz ein letztes Mal Beethovens Mondscheinsonate spielen möchten. Dazu laufen sie nach Tosu, der einzigen Stadt in der Umgebung mit einem Klavier. Der Flügel wird heute noch in Ehren gehalten, und die Städtefreundschaft anlässlich der Landesgartenschau 2004 in Zeitz intensiviert. Ich assistiere bei den Vorbereitungen einer „Japanischen Woche“ für die Landesgartenschau in Zeitz und begleite schließlich den Bürgermeister und die Meister der traditionellen japanischen Künste als Dolmetscherin. Fast nahtlos schließt sich ein Schüleraustausch an: ich bereite ein Grüppchen schüchterner Mittelschüler aus Tosu auf einen Homestay in Zeitzer Familien vor und reise wieder als Sprachmittlerin nach Zeitz.
Meine Impressionen sind vielfältig. Mich rührt die eifrige Begeisterung von über 50-Jährigen in meinen Sprachkursen; meine Dolmetscheinsätze bei Bürgermeisterempfängen und anderen hochoffiziellen Angelegenheiten werden zu echten Herausforderungen. Das skurrilste Erlebnis bleibt ein „Boxing Poetry Slam“. Die Veranstalter bestehen auf mich als gaijin („Ausländerin“ Anm. der Redaktion) als 5. Jury-Mitglied und ich finde mich vor einem Boxring wieder, in dem Kontrahenten mit selbstverfasster Lyrik gegeneinander antreten. Hand aufs Herz, ich verstehe nur die Hälfte und befürchte, jeden Moment aufzufliegen. Mein persönliches Dilemma löse ich, indem ich nach Gefühl für die „blaue“ oder die „rote“ Ecke stimme.
Unausweichlich ist die Konfrontation mit Stereotypen. Immer wieder höre ich z.B., dass die Deutschen - Kinder inklusive - wohl nur Bier trinken und Würste essen. Und es kommt vor, dass die Achse Tokio-Berlin-Rom gelobt wird. Ich bin belustigt bis irritiert und begreife, warum Kultur als „schweigende Sprache“ bezeichnet wird: seine kultureigenen Werte und Normen nimmt man nicht aktiv wahr und setzt sie auch für andere voraus. Nebeneffekt dieser Kontrastierung ist, dass ich mir meiner eigenen Kultur bewusster werde. Immer mehr fühle ich mich als Kind Europas. Dazu wächst das Bedürfnis, den Menschen in Tosu ein realistischeres Bild von Deutschland zu vermitteln. In meinem zweiten CIR-Jahr veranstalte ich also regelmäßig Kino-Abende im Gemeindehaus. Nach einer thematischen Einführung gibt es Unterhaltsames bis Ernstes u.a. „Lola rennt“, „Goodbye Lenin“, „Schindlers Liste“. Auch in meinem zweiten Jahr besuchen sich die Bürgermeister und Schüler von Tosu und Zeitz gegenseitig, und ich assistiere den Wirtschaftsjunioren bei der Betreuung der deutschen Teilnehmer ihres Weltkongresses in Fukuoka. Zum „Deutschland in Japan-Jahr 2005/2006“ verkleidet sich mein Kollege als „Die Maus“ und unsere Abteilung organisiert mit dem lokalen Fußballclub Sagan Tosu ein Tischfussball-Turnier mit deutschen Ständen im Fußballstadion von Tosu, ein echtes Highlight.
Dann der Abschied im Sommer 2005, nicht einer sondern viele – jeder Kontext erfordert eine eigene sobetsukai (Abschiedsfeier). Ich feiere mit den Kollegen aus der Stadtverwaltung, mit den Wirtschaftsjunioren, dem letzten Konversationskurs, dem Töpferkurs, den Nachbarn und verschiedenen Freunden.
Vier Jahre später sind aus den zwei Jahren in Tosu gefühlte zehn Jahre geworden, so voll gepackt mit lebendiger Erinnerung ist die Zeit. Viele Kontakte aus Tosu sind geblieben, privat und beruflich. In der Zeit in Tosu sind neue Interessen gewachsen: Tee & Keramik. Die Teefelder von Yame und Besichtigungen von Grüntee-Produktionsanlagen, aber auch Töpferwerkstätten und Keramik in Städten wie Karatsu und Arita haben mich schwer fasziniert und mich auf meinen aktuellen beruflichen Weg geführt. Nach einem Abstecher in den Teegroßhandel habe ich mich vor zweieinhalb Jahren selbständig gemacht und betreibe den Internetversandhandel Midori T. für Grünen Tee, Keramik und Lifestyle-Produkte aus Japan. Dabei freue ich mich immer wieder auf Reisegelegenheiten zu alten Kontakten aus der Welt des Tees und der Keramik, denen ich inzwischen nicht nur freundschaftlich sondern auch geschäftlich verbunden bin.