
Filme aus Japan
Das Summen der Insekten
(Schweiz, 2009, 88 Minuten)
Der Dokumentarfilm von Peter Liechti, basierend auf dem Text des japanischen Autors Masahiko SHIMADA „Miira ni naru made“ (Bis ich zur Mumie werde), gewann im vergangenen Jahr den Europäischen Filmpreis als „Bester Dokumentarfilm“ und das kann man, gelinde gesagt, als eine Überraschung bezeichnen. Weniger, weil es sich um ein sehr spezielles filmisches Essay handelt, sondern weil er sich gnadenlos einem der letzten Tabuthemen unserer so aufgeklärten und voyeuristischen Gesellschaft widmet, dem Sterben.
In der Abgeschiedenheit eines Hochmoors wird gleich zu Beginn eine Leiche entdeckt. Sie lag viele Monate in einem offenbar selbstgezimmerten Unterstand aus Holzpfählen und Plastikplanen. Der Tote war männlich, 1,76 cm groß und zirka 40 Jahre alt. Zum Zeitpunkt seines Todes wog er 36 Kilogramm. Zwischen seinen Beinen fand sich ein Tagebuch, in dem der des Lebens Müde akribisch sein eigenes Sterben dokumentierte. Wir werden bis zum Schluss nicht wissen, wer er war und warum er diesen schrecklichen Weg eingeschlagen hat. Was wir jedoch wissen werden, ist, dass das menschliche Leben nicht einfach weichen mag, nicht aus einem gesunden Körper mit einem wachen Geist. Und das macht Peter Liechtis Film so quälend – für den Zuschauer, dem eine ähnliche Ausdauer und Leidensfähigkeit abverlangt wird wie dem Sterbenden.
88 Minuten lang ertragen wir mit, was den Protagonisten 60 Tage kosten soll – sein Sterben. Durch willentliches Verhungern. Eine gefasste Stimme aus dem Off begleitet uns auf dieser Tour de Force, indem sie uns berichtet, was geschieht, wenn ein Mensch stirbt. Schmerzen, Halluzinationen, letzter Stuhlgang, letzte Erektion und verzweifelter Todeskampf. „Warum? Warum tut er sich das an?“ ist man die ganze Zeit versucht zu schreien, allein - eine Antwort gibt es nicht. Wir beobachten stattdessen prasselnden Regen, krabbelnde, summende Insekten, Wind und Sturm, Schwüle und Hitze. Aber es wird einem immer kälter ums Herz, je mehr man realisiert, dass es für den Sterbenden bereits keinen Weg zurück mehr gibt.
Liechti selbst sagt, die Herkunfts- und Geschichtslosigkeit seines Helden „ …ist auch Chiffre für die allgemeine Entfremdung des Menschen in der globalisierten Welt; die Austauschbarkeit der wenigen „Charakteristika“ seiner Persönlichkeit entspricht dem Lebensgefühl einer durch und durch materialistischen Gesellschaft … Der Akt des unbekannten Toten stellt schließlich auch eine Form radikalster Verweigerung dar: Totaler Rückzug aus dem Getriebe der Leistungs-Gesellschaft, die vollkommene Verweigerung des Konsumierens, des Mitmachens, der Hetzerei in diesem Leben. Die unterschwellige Kritik am zeitgenössischen Materialismus ist evident. SHIMADA stellt damit die klare Forderung , selber eine Haltung einzunehmen gegenüber der einmaligen Möglichkeit des Lebens.“ (Liechti in seinem directors statement)
Liechti bietet keinen Trost und keine Versöhnung. Er wirft Fragen auf, die einen noch lange bewegen – weitaus länger als 88 Minuten und durchaus länger als 60 Tage. Wohin gehen wir, wenn wir sterben? Wenn uns Charon auf dem Styx nirgendwo absetzt? Was, wenn es kein Totenreich gibt? Wir auf dem Styx dümpeln, ohne die Hoffnung auf eine andere Welt? Was, wenn am anderen Ufer die Toten Schlange stehen und nicht eingelassen werden? Zumindest hier bietet uns Liechti einen Lichtblick – die Möglichkeit, dass wir auf dem Boot des Fährmanns bleiben dürfen und ihn begleiten, durch die Welt zwischen Leben und Tod…
Fazit:
Schmerzhaft eindringliche Reflexion über das Sterben. Nur für hartgesottene Philosophen.

*J.G. (Diese Rezension stellt eine individuelle Meinung dar und vertritt nicht die offizielle Haltung der Botschaft von Japan)