Botschaft von Japan

Außenpolitik

Rede von Premierminister Kishida anlässlich der „Tokyo Conference 2022“ am 14. 03. 2022 – Japans Engagement angesichts der Lage in der Ukraine

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Bild: Premierminister Kishida beim G7-Gipfel am 25. 02. (japanischer Zeit). Bei diesem Online-Gipfel stimmten sich die Staats- und Regierungschefs der G7 in Bezug auf die Unterstützung für die Ukraine sowie über die Maßnahmen gegen Russland u.a. ab.

Die “Tokyo Conference” wurde 2017 in Zusammenarbeit mit maßgeblichen Denkfabriken in zehn führenden Staaten ins Leben gerufen. Ziel dieser jährlich stattfindenden Zusammenkunft ist die Förderung vertiefter Diskussionen über dringende Themen der internationalen Gemeinschaft, an denen sich Vertreter weltweit führender Denkfabriken sowie Politiker beteiligen. In diesem Jahr fand die Konferenz als Online-Veranstaltung statt, und Premierminister KISHIDA Fumio nutzte diese Gelegenheit, um hier Japans Engagement für die Ukraine vorzustellen. Bereits vor Beginn des Angriffs Russlands auf die Ukraine am 24. 02. hatte Japan sich mit den anderen G7-Mitgliedern in enger Weise bei den gemeinsamen Maßnahmen abgestimmt. Einen Überblick über Japans Engagement in Bezug auf den Krieg in der Ukraine bietet die Webseite der Botschaft von Japan unter dem Punkt „Zur Situation in Bezug auf die Ukraine“. Eine detaillierte und aktuelle Auflistung der Maßnahmen, die Japan zur Unterstützung der Ukraine sowie im Rahmen der Sanktionen gegen Russland u.a. ergriffen hat, bietet die Webseite des Amts des Premierministers. Es folgt der Redebeitrag des Premierministers für die Tokyo Conference 2022.

Sehr geehrte Anwesende,
ich danke Ihnen dafür, dass ich heute in dieser Form bei der Tokyo Conference, an der ich seit ihrer ersten Veranstaltung bereits einige Male teilgenommen habe, dabei sein darf und die Gelegenheit erhalte, vor Vertretern weltweit führender Denkfabriken zu sprechen.

Die Welt steht heute an einem historischen Wendepunkt. Die Grundlagen der internationalen Ordnung, welche die Staatengemeinschaft über einen langen Zeitraum hinweg unter großen Mühen und vielen Opfern errichtet hat, sind durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bedroht. Dieser Versuch, den Status quo mittels Gewalt einseitig zu verändern, ist ein Gewaltakt, der nicht nur Europa, sondern die Grundfesten der Ordnung der ganzen internationalen Gemeinschaft unter Einschluss Asiens erschüttert. Ist die Staatengemeinschaft in der Lage, durch geeintes sowie entschlossenes Handeln diese Krise zu überwinden und die Grundlagen der internationalen Ordnung zu schützen? So lautet die Frage, vor der wir jetzt stehen. Und es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass auch das Schicksal der Demokratie und des Multilateralismus, die Thema der heutigen Veranstaltung sind, davon abhängen, wie wir auf die russische Aggression gegenüber der Ukraine reagieren.

Die G7, die einen Zusammenschluss von Staaten bilden, welche die universellen Werte Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit miteinander teilen, antworten auf diese Krise in geeinter und zugleich entschlossener Weise. Auch ich habe am 24. Februar am Videogipfel der Staats- und Regierungschefs der G7 teilgenommen; zudem fanden allein in den letzten zwei Wochen vier Treffen der G7-Außenminister statt. Inmitten eines engen Zusammenwirkens untereinander führen die G7 die Staatengemeinschaft an.

In der Vollversammlung der Vereinten Nationen haben 141 Staaten mit überwältigender Mehrheit – weit mehr als bei der seinerzeitigen „Einverleibung“ der Krim durch Russland – eine Resolution verabschiedet, in der Russland kritisiert wird. Auch die gegen Russland verhängten Sanktionen, wie das Einfrieren des Vermögen der russischen Zentralbank sowie der Ausschluss russischer Banken vom internationalen Zahlungsverkehrssystems SWIFT, umfassen entschlossene Maßnahmen, die es in dieser Form bisher nicht gab. Sogar die Schweiz, die sich bei der Beteiligung an internationalen Sanktionen stets zurückhaltend zeigt, sowie Singapur in Südostasien haben sich diesen Sanktionen angeschlossen. Inmitten des Bewusstseins einer schweren Krise infolge der Aggression Russlands gegenüber der Ukraine erreicht auch die Unterstützung der anderen Staaten für die Ukraine ein bislang nicht gekanntes Ausmaß. Die EU unterstützt die Waffenlieferungen ihrer Mitgliedstaaten an die Ukraine durch finanzielle Maßnahmen. Es ist dies die erste militärische Hilfe vonseiten der EU außerhalb ihrer Grenzen. Sogar Deutschland hat entschieden, der Ukraine Flugabwehrraketen sowie Panzerabwehrwaffen zu liefern.

Auch Japan wirkt daher in enger Weise mit der internationalen Gemeinschaft, angefangen bei den G7, zusammen, und hat strikte Sanktionen gegen Russland verhängt. Das Vermögen führender Personen Russlands in Japan unter Einschluss von Präsident Putin sowie der Oligarchen wurde ebenso eingefroren wie das Vermögen der russischen Zentralbank. Auch beteiligt sich Japan am Ausschluss russischer Banken vom SWIFT-System und hat die Ausfuhren beispielsweise von Halbleitern unter strenge Kontrolle gestellt. Auf diese Weise steht Japan Schulter an Schulter in einer Reihe mit den westlichen Staaten. Darüber hinaus unterstützt mein Land die Ukraine auch direkt. So wurden für die Ukrainer, die sich im eigenen Land oder in Nachbarstaaten in Not befinden, sofortige Hilfen im Umfang von 100 Mio. Dollar bereitgestellt. Darüber hinaus hat Japan angesichts der beispiellosen Unterstützung durch verschiedenste Länder auch Ausrüstungsgegenstände der Japan Self-Defense Forces (JSDF) wie Schutzwesten und Helme bereitgestellt, die mit Flugzeugen der JSDF nach Polen transportiert wurden. Zudem hat mein Land begonnen, nach Drittstaaten geflüchtete ukrainische Staatsangehörige in Japan aufzunehmen.

Auf diese Weise hat der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine das Aussehen der internationalen Gemeinschaft bereits erheblich verändert. Womöglich beginnt nun im Anschluss an das Zeitalter nach dem Ende des Kalten Krieges eine neue Ära. Die Frage, ob die Staatengemeinschaft auf die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine entschlossen reagiert und die Grundlagen der internationalen Ordnung verteidigt, wird darüber entscheiden, wie sich das kommende Zeitalter im Anschluss an die Ära nach dem Ende des Kalten Krieges gestalten wird. Trotz großen Drucks vonseiten der Staatengemeinschaft, trotz vielfältiger Unterstützung und großer Solidarität vonseiten zahlreicher Länder für die Ukraine sowie trotz großer Tapferkeit auf ukrainischer Seite und hartnäckiger Verteidigung weitet Russland seinen Einflussbereich überall in der Ukraine weiter aus. Die Angriffe des russischen Militärs auf Wohngebäude, Schulen oder Krankenhäuser fordern zahlreiche zivile Opfer. Die internationale Gemeinschaft, angefangen bei den G7, muss auf diese schwierige Situation entschlossen reagieren.

Einseitige Veränderungen des Status quo wie die jetzige dürfen auch in der Region Indo-Pazifik und insbesondere in Ostasien nicht hingenommen werden. Diesem Punkt kommt auch mit Blick auf die künftige Außen- und Sicherheitspolitik Japans eine außerordentliche große Bedeutung zu. In Ostasien, wo die Konkurrenz zwischen den Vereinigten Staaten und China am deutlichsten zutage tritt, gestaltet sich das sicherheitspolitische Umfeld zunehmend schwierig, wie die einseitigen Versuche Chinas, den Status quo im Ostchinesischen Meer sowie im Südchinesischen Meer zu verändern, das zunehmende militärische Ungleichgewicht auf beiden Seiten der Taiwanstraße sowie die wiederholten Raketenstarts durch Nordkorea zeigen. Was müssen wir tun, damit derartige einseitigen Versuche der Veränderung des Status quo in der Region Ostasien nicht einfach hingenommen werden? Was müssen wir angesichts des sich zunehmend schwieriger gestaltenden sicherheitspolitischen Umfelds, in dem Japan sich befindet, unternehmen, wo wir verschiedene Tendenzen dahingehend beobachten können, dass eine Änderung des Status quo in der Region mittels Gewalt im Hintergrund geplant wird, um das Leben und den Besitz der Bürgerinnen und Bürger Japans zu schützen?

Ausgehend vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine müssen wir vor allem eine realistische Prüfung vornehmen, u.a. die Sicherheitsstrategie Japans neu aufstellen sowie die eigenen Verteidigungsfähigkeiten und -kapazitäten ganz erheblich ausbauen. Zudem besteht die Notwendigkeit, das Abschreckungspotenzial sowie die Reaktionsfähigkeit des japanisch-amerikanischen Bündnisses, das die zentrale Achse der Außen- und Sicherheitspolitik Japans sowie zudem das Fundament für Frieden und Wohlstand in der Region Indo-Pazifik bildet, weiter verstärken. Gerade inmitten der jetzigen schweren Krise müssen wir die universellen Werte wie die Demokratie sowie das Prinzip des Multilateralismus – diese Früchte der Weisheit der Menschheit, die unsere Vorfahren in langjährigen mühevollen Anstrengungen geschaffen haben – schützen und stärken. Aus Zeitgründen kann ich heute darauf leider nicht näher eingehen, und so möchte ich hier nur anführen, dass das von mir vorangetriebene Konzept eines „Neuen Kapitalismus“ ein Unterfangen darstellt, das sich direkt mit der Frage auseinandersetzt, wie wir die Mittelschicht schützen können, welche die Grundlage für eine gesunde Demokratie bildet.

Bereits vor fünf Jahren, als ich im Rahmen der damaligen „Tokyo Conference“ einen Vortrag hielt, führte ich aus, dass innerhalb einer Ära, die von Unsicherheit in Bezug auf die Zukunft geprägt ist, ein eindeutiger Kompass in der Außenpolitik erforderlich ist und dass dieser Kompass aus grundlegenden Werten wie Freiheit und Demokratie besteht. In diesem entscheidenden Augenblick, in dem die internationale Ordnung vielleicht eine grundlegende Umwälzung erfährt, bin ich davon sogar noch fester überzeugt. Japan wird den universellen Werten wie Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit eine noch größere Bedeutung beimessen und die Bande zu seinen Partnern, die diese universellen Werte mit ihm teilen, weiter festigen. Mein Land misst dem auf der Grundlage dieser universellen Werte beruhenden Prinzip des Multilateralismus einen hohen Stellenwert bei und wird einen führenden Platz innerhalb einer internationalen Gemeinschaft einnehmen, die sich Versuchen, den Status quo mittels Gewalt einseitig zu verändern, entschlossen entgegenstellt. Insbesondere innerhalb der Region Indo-Pazifik werde ich, angefangen bei den Vereinigten Staaten, die Zusammenarbeit mit verbündeten und gleichgesinnten Staaten sowie Partnern wie Australien, Indien, den Mitgliedern der ASEAN sowie in Europa vertiefen und in den kommenden Monaten zudem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Tokyo, so etwa Japans, der USA, Australiens und Indiens, dafür nutzen, um mich in strategischer Weise für die Verwirklichung eines „Freien und offenen Indo-Pazifiks“ zu engagieren.

Unsere jetzt zu treffende Wahl und wie wir von nun an handeln wird darüber entscheiden, welchen Weg die internationale Ordnung künftig nehmen wird. Angesichts dieser großen Zeitenwende müssen wir uns gemeinsam allen Versuchen, den Status quo einseitig und mittels Gewalt zu verändern, entschlossen widersetzen.

Abschließend möchte ich im Namen der Regierung und der Bevölkerung von Japan den Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine, die sich auch inmitten der großen Not ihres Landes mit ganzer Kraft für die Verteidigung ihrer Souveränität und ihres Territoriums sowie ihrer Heimat und ihrer Familien einsetzen, erneut meine aufrichtige Solidarität zum Ausdruck bringen.

Vielen Dank.