Home > Außenpolitik > Allgemein
Regierungserklärung von Premierminister Naoto Kan in der 174. Sitzungsperiode
des Parlaments am 11. 06 2010
1. Einleitung
Verehrte Bürgerinnen und Bürger,
verehrte Abgeordnete,
mein Name ist Naoto Kan. Ich wurde vor kurzem vom Parlament gewählt und habe nun
die große Verantwortung für das Amt des Premierministers von Japan übernommen.
Ich bin entschlossen, mich mit meiner ganzen Kraft dafür einzusetzen, den
Erwartungen der Menschen in diesem Land gerecht zu werden.
Neustart durch zurückgewonnenes Vertrauen
Dank des innigen Wunsches vieler Menschen, den lang andauernden Stillstand
endlich zu beenden, fand im Sommer letzten Jahres ein Regierungswechsel statt.
Allerdings wurden in der Folge die Hoffnungen, die anfangs auf die Regierung
gesetzt wurden, infolge des Problems in Bezug auf „Politik und Geld“ sowie
infolge des Durcheinanders mit Blick auf die Verlegung des Flugplatzes Futenma
erheblich erschüttert. Auch ich empfinde als Mitglied der vorherigen Regierung
die schmerzliche Verantwortung, diese Situation nicht verhindert zu haben. Der
vorherige Premierminister Yukio Hatoyama hat seine Verantwortung für das Problem
hinsichtlich „Politik und Geld“ in Bezug auf seine eigene Person sowie in Bezug
auf den vorherigen Generalsekretär Ozawa sowie für das Problem der Verlegung des
Flugplatzes Futenma offen zugegeben und mittels seines Rücktritts selbst die
Konsequenzen gezogen.
Angesichts dieser mutigen Entscheidung meines Vorgängers besteht meine Pflicht
als Nachfolger bei der Führung der Regierung vor allem darin, zum Ausgangspunkt
des historischen Regierungswechsels zurückzukehren, diesen Misserfolg zu
überwinden und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wiederzuerlangen.
Engagement „von der Basis“ her
Mein politisches Wirken nahm seinen Anfang vor mehr als 30 Jahren, als ich
die Wahl der Abgeordneten Fusae Ichikawa ins Oberhaus unterstützte. Bei ihrem
damaligen Wahlkampf, der sich vor allem auf die Bürgerinitiativen stützte,
fungierte ich als Leiter ihres Wahlkampfbüros. Unter anderem fuhren damals junge
Freiwillige in einem Jeep-Konvoi durch das ganze Land, und es war wirklich ein
Wahlkampf, der von der Basis ausging. Unmittelbar nach ihrer Wahl besuchte Frau
Ichikawa zusammen mit dem Abgeordneten Yukio Aoshima den damaligen Präsidenten
des Unternehmerverbandes Keidanren, Toshio Doko, und erwirkte von diesem die
Zusage, die Vermittlung von Unternehmensspenden durch den Keidanren zu beenden.
Diese Zusage wurde später zwar wieder abgeschwächt, aber in diesem Jahr nun hat
der Keidanren beschlossen, seine organisatorische Mitwirkung an
Unternehmensspenden aufzugeben. „Die Kraft einer einzigen Stimme bei der Wahl
verändert die Politik.“ Die eindringlichen Erfahrungen, die ich damals gemacht
habe, bilden den Ursprung meines politischen Engagements. Politik kann durch die
Kraft der Menschen verändert werden. Mit dieser Überzeugung, die ich ganz
verinnerlicht habe, werde ich mich dafür einsetzen, der mir zuteilgewordenen
Verantwortung gerecht zu werden.
Teilnahme an der Politik mit vollem Einsatz
Ich bin in der Stadt Ube in der Präfektur Yamaguchi geboren und kam als
Oberschüler im Rahmen eines Arbeitsplatzwechsels meines Vaters, der als
Techniker in einem Unternehmen arbeitete, nach Tokyo. In Tokyo kann sich ein
Angestellter ohne ein großes Darlehen kein Eigenheim leisten. Die großen Mühen
meines Vaters, die ich damals miterlebte, waren der Anlass für mein Engagement
im Bereich Bauland in Stadtregionen. Nach dem Studienabschluss arbeitete ich
zunächst im Büro eines Patentanwalts und engagierte mich gleichzeitig in
Bürgerinitiativen. Zwei Jahre nach dem Wahlkampf von Frau Ichikawa stellte ich
mich bei der sogenannten Lockheed-Wahl (von 1976) erstmals den Herausforderungen
der Politik auf landesweiter Ebene. Bei meiner ersten Kandidatur überschrieb ich
meine Aufsätze mit „Aus einer Ethik der Verneinung kann nichts entstehen“ sowie
mit „Nicht aufgeben für das Ziel einer Demokratie der Teilnahme“. Mittels einer
Demokratie der Teilnahme warb ich für die Notwendigkeit, das Gefühl und das
Bewusstsein der Menschen in Bezug auf die Politik wiederherzustellen. Nach drei
vergeblichen Versuchen wurde ich 1980 erstmals ins Parlament gewählt, wobei mein
Leben als Abgeordneter seinen Ausgang von einer sogenannten Kleinpartei nahm.
Unter den Abgeordneten der Demokratischen Partei Japans sind heute viele, die
sich wie ich in jungen Jahren ohne Unterstützerbasis und ohne Geld mit großem
Elan in die Welt der Politik gestürzt haben. Wenn man den Willen hat und sich
anstrengt, dann kann jeder an der Politik teilnehmen. Ist es nicht gerade eine
solche Politik, die wir anstreben sollten?
Verwirklichung einer wahren Souveränität der Bürgerinnen und Bürger
Meine grundlegende politische Überzeugung besteht in der Verwirklichung
einer wahren Souveränität, bei der sich die Bürgerinnen und Bürger des Landes an
der Politik beteiligen. Diesen Ausgangspunkt habe ich von der „Idee der
Autonomie der Bürgerinnen und Bürger“ des Politikwissenschaftlers Prof. Keiichi
Matsushita gelernt. In Japan herrschte bislang die Vorstellung vom „System des
Beamtenkabinetts“ vor, bei dem die Politik von Beamten angeführt wird. Jedoch
bestimmt die japanische Verfassung, dass die Bürgerinnen und Bürger die
Parlamentsabgeordneten wählen sowie dass der vom Parlament gewählte
Premierminister ein Kabinett zusammenstellt. Wie Prof. Matsushita lehrt, besteht
in Japan eigentlich ein „System des Parlamentskabinetts“. Demnach bedeutet
politische Führung, dass die Partei, die von der Mehrheit der Menschen
unterstützt wird, zusammen mit dem Kabinett die Politik des Landes leitet. Daher
muss die von Beamten angeführte Politik abgelöst werden. Durch Parteien, die
sich den Menschen in unserem Land weit öffnen, beteiligen sich die Bürgerinnen
und Bürger aktiv, und auf diese Weise wird eine Politik mittels einer Regierung
des Volkes verwirklicht. Ich werde entschlossen auf dieses Ziel hinwirken.
Aufgaben der neuen Regierung
Als Aufgaben für die neue Regierung führe ich die folgenden drei Bereiche
an: „Gründliches Aufräumen mit der Nachkriegspolitik“, „Einheitliche Neuordnung
von Wirtschaft, Finanzen und sozialer Sicherheit“ sowie eine „Außen- und
Sicherheitspolitik, die auf einem Gefühl der Verantwortung beruht“.
2. Fortsetzen der Reformen – Gründliches Aufräumen mit der Nachkriegspolitik
Fortsetzen der Reformen
Die wichtigste Herausforderung im Bereich der Politik ist die Fortführung
der Reformen, die mit dem Regierungswechsel im letzten Jahr eingeleitet wurden.
Das Kabinett Hatoyama setzte sich unbeirrbar für eine Überprüfung der
Regierungsprogramme (auf Japanisch: jigyou shiwake) sowie für eine Reform
des Systems der Beamten ein; keines dieser Vorhaben war von den bisherigen
Regierungen als ein gründliches Aufräumen mit der Nachkriegspolitik erfolgreich
in Angriff genommen worden. Allerdings haben wir erst die Hälfte des Wegs
geschafft. Wir müssen die Reformen fortführen, die wir den Menschen im Land
versprochen haben, und sie gründlich umsetzen. Die Reformen werden Einwände und
Widerstand hervorrufen. Wenn wir jedoch in unseren Anstrengungen nachließen,
würden die Reformen abgeschwächt und wir würden sogar einen Rückschritt erleben.
Wir werden die Reformen vorantreiben, wobei die Vertreter der Politik die
Initiative innehaben werden, und wir werden die Uhren nicht zurückdrehen.
Ausmerzen von Verschwendung und Neugestaltung der öffentlichen Verwaltung
Als Erstes werden wir unsere bisherigen Anstrengungen weiter verstärken, um
der Verschwendung entgegenzutreten. Unter der Regierung Hatoyama wurde eine
zweimalige Überprüfung der Regierungsprogramme durchgeführt, einmal im letzten
Jahr und dann erneut in diesem Jahr. Der Prozess der Aufstellung des Haushalts
und die Operationen der unabhängigen Verwaltungsgesellschaften sowie weiterer
Unternehmen im öffentlichen Bereich, die bislang außerhalb des Blicks der
Öffentlichkeit standen, wurden Schritt für Schritt und im Licht der
Öffentlichkeit bestätigt. Dies hat die Transparenz der öffentlichen Verwaltung
in hohem Maße verbessert. Wir werden diese Anstrengungen fortführen, damit die
begrenzten humanen Ressourcen und der Haushalt der Regierung in effektiver Weise
genutzt werden.
Wir werden auch die Überprüfung der Regierungsorganisationen sowie des Systems
der Beamten fortsetzen. Wir werden die vertikale Trennung innerhalb der
Ministerien und Behörden aufheben und die Funktionen der Regierung erweitern,
während wir uns mit ganzer Kraft in solchen Bereichen wie ein Verbot von
amakudari („Goldener Fallschirm“) von Beamten einsetzen werden.
Ich werde zudem darauf hinwirken, den Charakter der Abgeschlossenheit der
Regierung zu überwinden. 1996 habe ich mich als Minister für Gesundheit und
Soziales für die Aufklärung des AIDS-Skandals durch verseuchte Blutprodukte
eingesetzt. Damals behaupteten die Mitarbeiter des Ministeriums für Gesundheit
und Soziales zunächst, die entsprechenden Dokumente seien nicht auffindbar. Ich
gab die nachdrückliche Anweisung, danach zu suchen, und als Ergebnis kam die
Existenz der Dokumente ans Licht. Diese Veröffentlichung von Informationen
führte zur Aufklärung des Skandals und auch zur Hilfe für die Opfer. Ich bin mir
daher mehr als jeder andere der großen Bedeutung der Veröffentlichung von
Informationen bewusst. Als Finanzminister im Kabinett Hatoyama arbeitete ich mit
dem Außenminister dabei zusammen, die Existenz der geheimen Abkommen zwischen
Japan und den Vereinigten Staaten ans Licht zu bringen. Ich werde diese Haltung
– unter Einschluss der Überlegungen hinsichtlich einer Überarbeitung des
Gesetzes zur Veröffentlichung von Informationen – auch in Zukunft beibehalten.
Förderung der Souveränität der Regionen und Reform des Postwesens
Darüber hinaus werde ich mich auch für die Gestaltung der regionalen
Souveränität einsetzen. Eine standardisierte Politik im Rahmen eines
zentralisierten Staats schränkt die Fähigkeiten zur Gestaltung von Maßnahmen
ein, die auf die große Vielfalt im lokalen Bereich passgenau zugeschnitten sind.
Eine gründliche Gestaltung der Souveränität der Regionen ist die wesentliche
Voraussetzung, wenn wir eine Regierung formen wollen, die sich der aktiven
Beteiligung der Menschen vor Ort erfreut. Wir stehen nun an dem Punkt, an dem
wir innerhalb der Debatte von den Grundzügen zu den Einzelheiten übergehen.
Meine Absicht ist es, mit der Übergabe der rechtlichen Zuständigkeiten und der
finanziellen Mittel in einer wohl überlegten Weise fortzufahren, nachdem wir mit
den Menschen in den Regionen von Angesicht zu Angesicht gesprochen und die
Wünsche der einzelnen Bereiche berücksichtigt haben. Auf dieser Grundlage werde
ich konkrete Schlussfolgerungen für jeden Bereich der öffentlichen Verwaltung in
den einzelnen Regionen ziehen und dabei auch ein System von
Sonderverwaltungszonen nutzen.
Mit Blick auf das Postwesen wollen wir auf der Grundlage der
Koalitionsvereinbarung zwischen der Demokratischen Partei Japans und der Neuen
Volkspartei rasch einen Gesetzentwurf über Reformen im Postwesen verabschieden,
damit die grundlegenden Dienstleitungen in den Postämtern im ganzen Land in
einer integrierten Weise angeboten werden, während wir gleichzeitig die
derzeitigen Strukturen des Managements neu gestalten.
3. Beenden des Stillstands im Land: Einheitliche Neuordnung von Wirtschaft,
Finanzen und sozialer Sicherheit
Als zweite Herausforderung für die Politik werden wir die Wirtschaft wieder in
Schwung bringen, die Staatsfinanzen in Ordnung bringen und auch das System der
sozialen Sicherheit neu gestalten, damit wir eine Gesellschaft aufbauen, in der
die Menschen Hoffnungen in Bezug auf ihre Zukunft hegen können. Die japanische
Wirtschaft verharrt seit dem Zusammenbruch der Bubble Economy zu Beginn der
1990er Jahre seit nunmehr fast 20 Jahren in einem Zustand der Stagnation. Dies
hat dazu geführt, dass die Menschen ihr früheres Selbstvertrauen verloren haben
und dass sie sich Sorgen um die Zukunft machen. Es ist die Aufgabe des neuen
Kabinetts, die Hoffnungen der Menschen zu erfüllen, die möchten, dass wir das
Land aus dem Stillstand herausführen. Dieses Unterfangen werden wir auf der
Grundlage einer neuen Blaupause in Angriff nehmen, die man als „Dritten Weg“
bezeichnen könnte.
Der Wirtschaft durch einen „Dritten Weg“ neuen Schwung verleihen
Die Wirtschaftspolitik der letzten zwei Jahrzehnte wurde auf der Grundlage
von Überlegungen gestaltet, die ich den „Ersten Weg“ und „Zweiten Weg“ nennen
möchte. Der „Erste Weg“ bezeichnet eine Wirtschaftspolitik, die öffentliche
Arbeiten in den Mittelpunkt rückt. Während der Periode des raschen
Wirtschaftswachstums in den 1960er und 1970er Jahren führte der Ausbau von
Straßen, See- und Flughäfen sowie weiterer Einrichtungen zu einer größeren
Produktivität und zur Steigerung des Wirtschaftswachstums. In den 1980er Jahren
hingegen, als die grundlegende Infrastruktur bereits stand, ging die Verbindung
zwischen diesen Investitionen im Bereich öffentliche Arbeiten und den
wirtschaftlichen Auswirkungen verloren, und in den 1990er Jahren ergab sich ein
völlig anderes Bild. Die meisten öffentlichen Arbeiten, für die in den Jahren
nach dem Zusammenbruch der Bubble Economy gewaltige Summen aufgewendet wurden,
brachten keine effektiven Resultate hervor.
Dann, im ersten Jahrzehnt des 21. Jh., wurde Wirtschaftspolitik mit dem
Schwerpunkt auf die Produktivität betrieben; dies gründete sich auf einem
exzessiven Marktfundamentalismus sowie auf einer allzu großen Berücksichtigung
der Angebotsseite. Dies ist der „Zweite Weg“. Diese Art der Politik kann man aus
der Sicht eines einzelnen Unternehmens für angemessen halten. Wenn ein
Unternehmen entschlossene Maßnahmen zu seiner Umstrukturierung durchführt und
auf diese Weise seine Performance wiederherstellt, dürfte die
Unternehmensführung als erfolgreich gelobt werden. Wenn wir jedoch den Blick auf
das ganze Land richten, dann stellen wir fest, dass diese Politik vielen
Menschen ihre Arbeitsplätze genommen hat, den Lebensunterhalt der Menschen noch
schwieriger gestaltet sowie zur Deflation geführt hat. Der Punkt ist, dass sich
ein Unternehmen neu strukturieren und Mitarbeiter entlassen kann; ein ganzes
Land aber kann dies nicht. Wir müssen die Verbesserung der Produktivität
unterstützen, aber gleichzeitig ist es noch wichtiger, Nachfrage und
Beschäftigung auszuweiten. Weil dies nicht geschehen ist, sind sich die Menschen
heute in hohem Maße der sich weiter verbreitenden Kluft bewusst geworden, was
zur weiten Verbreitung eines Gefühls des Unbehagens in der Gesellschaft geführt
hat. Zum Sinnbild dafür mögen die haken-mura gelten, die improvisierten
Zeltstädte im Hibiya-Park im Zentrum Tokyos, die vor zwei Jahren entstanden.
Die Wirtschaft stagniert weiter, weil die Ziele der wirtschaftspolitischen
Maßnahmen nicht mehr mit den geänderten industriellen und gesellschaftlichen
Strukturen übereinstimmen. Wir haben aus diesen Fehlern der Vergangenheit
gelernt und nehmen nun den „Dritten Weg“ in Angriff als einen Prozess, der den
gegenwärtigen Bedingungen entspricht. Diese Maßnahmen zielen darauf ab, die
Probleme, die in Wirtschaft und Gesellschaft bestehen, in Chancen für neue
Nachfrage und Beschäftigung zu verwandeln und sie mit neuen Formen von Wachstum
zu verknüpfen. Die wichtigsten Ursachen für den Stillstand, der bis heute weiter
besteht, sind die wirtschaftliche Stagnation, das weiter zunehmende Defizit des
Staatshaushalts sowie der Verlust des Vertrauens in die sozialen
Sicherungssysteme. Das neue Kabinett ist fest entschlossen, politische Führung
zu zeigen, um eine „starke Wirtschaft“, „gesunde öffentliche Finanzen“ sowie
„ein starkes soziales Sicherungssystem“ in einer integrierten Weise zu
gestalten.
Verwirklichung einer „starken Wirtschaft“
Die erste Aufgabe ist die Verwirklichung einer „starken Wirtschaft“. Die
Finanzkrise von 2008 hat die japanische Wirtschaft unmittelbar getroffen, die
allzu sehr von der Nachfrage aus dem Ausland abhängig war, und größere
Auswirkungen als in anderen Staaten erfuhr. Das Realisieren einer starken
Wirtschaft erfordert die Schaffung einer stabilen Nachfrage – und zwar sowohl im
Inland als auch im Ausland – sowie die Gestaltung von Wirtschaftsstrukturen, die
dazu beitragen, den Wohlstand allgemein zu verbreiten.
Wie soll nun Nachfrage erzeugt werden? Den Schlüssel hierfür bildet die Existenz
einer „problemlösenden“ nationalen Strategie. In der heutigen Wirtschaft und in
der modernen Gesellschaft sind viele neue Probleme aufgetreten. Wir müssen jedes
dieser Probleme direkt in Angriff nehmen und Lösungsrezepte präsentieren, die
neue Nachfrage und neue Arbeitsplätze schaffen. Basierend auf diesen
Überlegungen hat die Neue Wachstumsstrategie, die unter meiner Verantwortung
seit dem letzten Jahr erarbeitet wurde, Wachstumsfelder wie „Grüne
Innovationen“, „Innovationen im Bereich Lebenswissenschaften“, die „Wirtschaft
Asiens“ sowie „Tourismus und die Regionen“ identifiziert. Als unterstützende
Plattformen werden wir zudem Strategien für „Wissenschaft und Technologie“ sowie
für „Beschäftigung und humane Ressourcen“ umsetzen.
Der frühere Premierminister Yukio Hatoyama hat sich mit Nachdruck im ersten
Feld, den „Grünen Innovationen“, engagiert. Dies beinhaltet Maßnahmen im Kampf
gegen die globale Erwärmung, wie etwa das Ziel der Reduzierung der
Treibhausgasemissionen um 25 Prozent bis zum Jahr 2020. Es bestehen zahlreiche
weitere viel versprechende Bereiche, darunter solche im Zusammenhang mit der
Bewahrung der biologischen Vielfalt und der Wasserversorgung, die für das
Überleben der Menschen unerlässlich ist. Auch auf diesen Gebieten besteht ein
enormes Potential für Nachfrage. Wir setzen unsere Hoffnungen zudem in die
Entwicklung neuer Technologien und Wirtschaftsaktivitäten in Bereichen wie
Transport, alltagsbezogene Bereiche, Energie – einschließlich Kernenergie –
sowie auch Stadtentwicklung.
Wir werden Japan mittels des zweiten Wachstumsfeldes „Innovationen im Bereich
Lebenswissenschaften“ zu einem führenden Land in Bezug auf die Gesundheit seiner
Menschen machen. Das sichere Aufziehen von Kindern und das Führen eines gesunden
Lebens im Alter wünschen sich alle Menschen. Das Präsentieren von
Lösungsrezepten, damit diese Wünsche erfüllt werden können, wird neue
ökonomische Werte und neue Arbeitsplätze schaffen.
Das dritte Feld ist eine „Wirtschaftsstrategie für Asien“. Viele Regionen in
Asien, das weiterhin ein rasantes Wachstum verzeichnet, sehen sich vor
Herausforderungen in Bezug auf Urbanisierung und Industrialisierung gestellt,
die von Umweltproblemen begleitet werden. Zudem bestehen Sorgen mit Blick auf
sinkende Geburtenraten und alternde Gesellschaften. Diese Länder müssen ihre
soziale Infrastruktur wie Eisenbahnen, Straßen, Energieversorgung und
Wasserleitungen ausbauen, also Bereiche, in denen Japan bereits ein mehr oder
weniger ausreichendes Niveau erreicht hat. Japan ist in der Lage, den neu
entstehenden Bedarf auf den Märkten Asiens zu befriedigen, indem es Modelle
dafür präsentiert, wie die Herausforderungen bewältigt werden können, bevor
andere Länder dies tun. Um diesen Bedarf zu erfassen, werden wir den Austausch
mit den Menschen im Ausland ausweiten, die Infrastruktur zur Stärkung der
Transportfunktionen von Flughäfen verbessern, Reformen im Bereich Regulierungen
umsetzen sowie das Engagement von kleinen und mittleren Unternehmen im Ausland
unterstützen.
Auf dem vierten Feld der „Strategien, die Japan zu einem Tourismusland machen
und die Regionen beleben werden“, kann die Förderung des Tourismus unter Nutzung
des kulturellen Erbes Japans und seiner natürlichen Schönheit zur
wirtschaftlichen Belebung der Regionen beitragen. Die Voraussetzungen für die
Erteilung von Visa wurden unter der Regierung Hatoyama bereits erheblich
gelockert, um auf diese Weise die Zahl der Besucher aus China zu steigern.
Wenn die landwirtschaftlich geprägten Dörfer sowie die Berg- und Fischerdörfer
in der Lage sind, die Produktion, Verarbeitung und Distribution ihrer Güter in
einer integrierten Art und Weise selbst zu übernehmen und auf diese Weise neue
Werte zu schaffen, wird dies zur Schaffung von Arbeitsplätzen vor Ort sowie zu
vitalen Gemeinwesen führen, in denen die jungen Familien Kinder haben und
aufziehen wollen. Die Entwicklung von Landwirtschaft, Forstwirtschaft und
Fischerei als Kernindustrien in den Regionen wird zudem dazu beitragen, Japans
Selbstversorgungsrate bei Nahrungsmitteln zu verbessern. Insbesondere die
Forstwirtschaft wird in einer Niedrig-Karbon-Gesellschaft eine neue wichtige
Rolle spielen. Die Bäume, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gepflanzt
wurden, sind nun zu großer Höhe herangewachsen. Es besteht daher nun die gute
Gelegenheit, die Forstindustrie durch die Schaffung neuer Netzwerke von
Transportwegen sowie durch weitere Maßnahmen zu beleben. Die Einführung des
Unterstützungssystems für die Einzelhaushalte und andere Schritte für die Land-
und Forstwirtschaft sowie für das Fischereiwesen sollten unter diesem Aspekt
weiterentwickelt werden. Gerade in diesem Moment, während ich zu Ihnen spreche,
schauen die Viehzüchter in der Präfektur Miyazaki voller Sorge nach ihren
Rindern und Schweinen, die sie mit großer Fürsorge wie ihre eigenen Kinder
aufgezogen haben. Die Menschen vor Ort kämpfen mit großem Engagement, um die
Maul- und Klauenseuche zu stoppen. Die Regierung wird alles in ihrer Macht
stehende unternehmen, um die Ausbreitung der Infektionen zu verhindern, und sie
wird alle erdenklichen Schritte ergreifen, um den Lebensunterhalt der
betroffenen Bauern zu sichern und ihnen zu helfen, ihre Betriebe wieder
aufzubauen.
Um die Regionen mit neuem Schwung zu erfüllen, werden wir einen strategischen
Ansatz verfolgen, der das Know-how und die Ressourcen des privaten Sektors
nutzt, um die soziale Infrastruktur zu entwickeln, die die Menschen wirklich
benötigen. Wir werden zudem kleine und mittlere Unternehmen mit großen
Ambitionen unterstützen.
Um diese Wachstumsfelder zu fördern, werden die Stärken im Bereich Wissenschaft
und Technologie, die Japan über die Jahre hinweg entwickelt hat, in
Übereinstimmung mit den „Strategien für Wissenschaft und Technologie“, dem
fünften Feld, weiter ausgebaut werden. Wir werden die Regulierungen überarbeiten
und die Unterstützungsmechanismen prüfen, um eine effektive und zugleich
effiziente technologische Entwicklung anzuregen. Das Bildungsumfeld wird
verbessert, damit die jungen Leute, die in der Zukunft die Führer unseres Landes
sein werden, ihre Träume verfolgen und den Weg der Wissenschaft beschreiten
können. Auch das Umfeld für Forschungen werden wir verbessern, damit
hervorragende Forscher aus der ganzen Welt nach Japan kommen. Die Nutzung des
geistigen Eigentums sowie auch der Informations- und Kommunikationstechnologien,
die als Sprungbrett für neue Innovationen dienen können, wird ebenfalls weiter
entwickelt werden.
Im Rahmen des sechsten Feldes der Strategien für „Beschäftigung und humane
Ressourcen“ werden wir die Entwicklung der humanen Ressourcen in neuen
Wachstumsbereichen fördern. Um die Beschränkungen einer schrumpfenden
Arbeitspopulation zu überwinden, die durch den Geburtenrückgang und die alternde
Bevölkerung verursacht werden, streben wir an, den Anteil von jungen Menschen,
Frauen und Älteren an der arbeitenden Bevölkerung zu steigern. Unser Ziel ist es
zudem, stabile Arbeitsplätze zu sichern und dabei die Veränderungen innerhalb
der industriellen Strukturen zu berücksichtigen. Dadurch soll allen eine
„ordentliche Arbeit“ ermöglicht werden, die ein Leben in Würde und ein gutes
Auskommen ermöglicht. Wir werden eine Gesellschaft fördern, in der
Geschlechtergerechtigkeit herrscht, indem wir entschlossen ein Umfeld gestalten,
in dem Frauen mehr Gelegenheiten haben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu
stellen.
Humane Ressourcen sind die treibende Kraft für Wachstum. Ein großes Reservoir
von humanen Ressourcen entsteht mittels der Ausweitung der Fähigkeiten jedes
einzelnen Menschen in unserem Land durch Bildung, Sport, Kultur und andere
Bereiche.
Die „Neue Wachstumsstrategie“, die konkrete Schritte in den gerade genannten
Bereichen beinhaltet, wird noch diesen Monat fertig gestellt und veröffentlicht
werden. Durch das Zusammenwirken zwischen Regierung und Privatsektor werden
Anstrengungen unternommen, um eine „starke Wirtschaft“ zu verwirklichen, die in
der Lage ist, bis 2020 ein jährliches Wachstum von durchschnittlich 3 Prozent
nominell sowie 2 Prozent real zu erzielen. Das vordringlichste Ziel besteht
jetzt darin, aus der Deflation herauszukommen, und die Regierung wird mit der
Bank of Japan zusammenwirken, um entschlossene und umfassende Maßnahmen hierfür
einzuleiten.
„Gesunde öffentliche Finanzen“ durch Wiederherstellung der fiskalischen
Gesundung
Als Nächstes müssen wir gesunde öffentliche Finanzen verwirklichen.
Angesichts eines wirtschaftlichen Klimas, in dem der Konsum des privaten Sektors
stagniert, erscheint es bis zu einem gewissen Grad durchaus logisch, durch die
Herausgabe von Staatsanleihen die Sparguthaben der Menschen zu absorbieren und
die schwindende private Nachfrage durch öffentliche Ausgaben zu kompensieren. In
Japan allerdings befinden sich die öffentlichen Finanzen aufgrund einer Vielzahl
aufwändiger Projekte für öffentliche Arbeiten sowie aufgrund von
Steuerentlastungen, die vor allem in den 1990er Jahren umgesetzt wurden, sowie
auch durch den steilen Anstieg bei den Kosten für soziale Sicherheit aufgrund
unserer alternden Gesellschaft in einem schlimmen Zustand. Tatsächlich gestaltet
sich die Situation so schlecht wie in keinem anderen Industrieland. Eine
Fiskalpolitik, die sich in hohem Maße auf die Ausgabe von Staatsanleihen stützt,
ist nicht länger tragbar. Wie die Instabilität innerhalb der Eurozone zeigt, die
ihren Ursprung in Griechenland hat, riskieren wir einen fiskalischen
Zusammenbruch, wenn wir die steigenden öffentlichen Schulden ignorieren und das
Vertrauen der Wertpapiermärkte verlieren.
Der Umfang von Japans Schuldenberg ist enorm und er wird nicht über Nacht
verschwinden. Aus diesem Grund ist es außerordentlich wichtig, umgehend mit
grundlegenden Reformen zu beginnen, die zu einer fiskalischen Gesundung führen.
Konkret besteht der erste Schritt in der nachdrücklichen Förderung von
Maßnahmen, um der Verschwendung zu begegnen. Als Nächstes werden wir eine
Wachstumsstrategie umsetzen. Bei der Aufstellung der Haushalte werden wir unsere
Prioritäten an Maßstäben ausrichten, die berücksichtigen, inwieweit die Ausgaben
zur Schaffung von Wachstum und Arbeitsplätzen beitragen. Dies wird es uns
erlauben, Ziele für wirtschaftliches Wachstum zu erreichen sowie gesunde
öffentliche Finanzen durch vermehrte Steuereinnahmen zu gestalten.
Zusätzlich zur Ausmerzung von Verschwendung und zum Aufstellen von Hauhalten,
die Wirtschaftswachstum fördern, muss das Steuersystem einer eingehenden Reform
unterzogen werden, um die kritische Lage, in der sich Japans öffentliche
Finanzen heute befinden, zu verbessern. Wenn wir damit fortfahren,
Staatsanleihen im bisherigen Umfang auszugeben, werden sich die öffentlichen
Schulden – gemessen am BIP – in einigen Jahren auf mehr als 200 Prozent
belaufen. Um dies zu verhindern, müssen wir dringend ein Gesamtbild für das
künftige Steuersystem herstellen.
Unter diesem Blickwinkel und den Blick unverwandt auf künftige wirtschaftliche
Vorhaben gerichtet, hat das Kabinett Hatoyama den mittelfristigen Rahmen für den
Haushalt sowie eine Strategie für das haushaltspolitische Management geprüft,
die den Weg zu einer mittel- und langfristigen haushaltspolitischen Disziplin
aufzeigen. Auch ich habe mich an diesen Prüfungen beteiligt, die bis Ende des
Monats abgeschlossen sein werden. Inzwischen hat die Liberaldemokratische Partei
während der jetzigen Sitzungsperiode des Parlaments einen Gesetzentwurf über die
Verantwortung zur Wiederherstellung der fiskalischen Gesundheit eingebracht. Ich
möchte an dieser Stelle einen Vorschlag machen. Ich glaube, dass wir zu dieser
lebenswichtigen Frage, die die Zukunft unseres Landes betrifft, eine das ganze
Land umfassende Debatte brauchen, bei der die Grenzen zwischen Regierungs- und
Oppositionsparteien überwunden werden. Wir sollten eine unparteiische „Konferenz
für Überlegungen zur Wiederherstellung der fiskalischen Gesundheit“ einrichten,
der Abgeordnete dieses Parlaments angehören, die sich der großen Bedeutung der
Gestaltung gesunder öffentlicher Finanzen bewusst sind, und für eine
konstruktive Debatte zusammenwirken.
Gestaltung eines „starken sozialen Sicherungssystems“
Zusätzlich zu einer starken Wirtschaft und gesunden öffentlichen Finanzen,
die ich gerade angeführt habe, werden wir uns auch für die Gestaltung eines
starken sozialen Sicherungssystems einsetzen.
In der Vergangenheit haben die Menschen die belastenden Aspekte der sozialen
Sicherheit im Kontext der sinkenden Geburtenrate und einer alternden
Gesellschaft hervorgehoben, und es bestand die Tendenz, soziale Sicherheit als
etwas anzusehen, das wirtschaftliches Wachstum behindert. Ich teile diese
Auffassung nicht. Wenn sich die Menschen Sorgen über das soziale System machen
oder gar Misstrauen gegen dieses System hegen – seien es die medizinische
Behandlung, die Renten oder das Großziehen von Kindern – dann mangelt es ihnen
an Vertrauen, ihr Geld für den Konsum auszugeben. Zusätzlich können viele
Aspekte der sozialen Sicherheit zu Wachstum führen, indem sie neue Arbeitsplätze
schaffen. Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass die Ausweitung der
sozialen Sicherheit zu neuer Beschäftigung führen und gleichzeitig zu Wachstum
führen kann.
Um eine starke soziale Sicherheit entlang dieser Vorgaben zu gewährleisten und
um ein Modell für ein Japan zu präsentieren, das die Probleme einer sinkenden
Geburtenrate und einer alternden Gesellschaft überwinden kann, werden wir
Reformen umsetzen, um verschiedene Bereiche des Systems der sozialen Sicherheit
neu zu gestalten. In Bezug auf das Rentensystem ist es dringend erforderlich,
dass wir uns mit ganzer Kraft der Frage der nicht zuzuordnenden Rentennachweise
annehmen und ein System gestalten, das einer modernen Gesellschaft angemessen
ist. Um eine das ganze Land umfassende und überparteiliche Debatte über dieses
Thema einzuleiten, werden wir die Grundzüge für ein neues Rentensystem vorlegen.
Wir werden zudem das Gesundheitssystem umgestalten und eine medizinische
Versorgung sicherstellen, der die Menschen vertrauen können. In gleicher Weise
werden wir uns für die Einrichtung von Pflegediensten einsetzen, die die
Menschen vertrauensvoll in Anspruch nehmen können. Die Ausweitung des Systems
der Kinderbetreuung ist ein weiterer Punkt, der keinen weiteren Aufschub duldet.
Zusätzlich zum Kindergeld wird sich die Regierung geschlossen dafür einsetzen,
das ganze Spektrum an Dienstleistungen im Bereich Kinderbetreuung anzubieten,
indem wir sicherstellen, dass kein Kind auf einen Betreuungsplatz warten muss
und indem wir die beiden Bereiche der bisherigen Kinderbetreuung, nämlich die
Kindergärten und die Tageseinrichtungen für Kinder, zusammenführen.
Zusätzlich müssen wir, um das Niveau der Dienstleistungen im Bereich der
sozialen Sicherheit und in anderen Bereichen zu verbessern sowie um denjenigen,
die der Leistungen der sozialen Sicherheit am dringendsten bedürfen, diese
zukommen zu lassen, die Grundlagen dieses Systems besser ausstatten; dies
schließt auch die Einführung eines Systems von Sozialversicherungsnummern ein.
In naher Zukunft werden wir den Bürgerinnen und Bürgern in Japan konkrete
Optionen mit Blick auf die Einführung eines Nummernsystems für die soziale
Sicherheit und die Besteuerung aufzeigen.
Eine Gesellschaft, die jeden Einzelnen einschließt
Neben den gerade angeführten Maßnahmen hat für mich auch der Kampf gegen das
neue gesellschaftliche Risiko der Vereinsamung höchste Priorität. Seit
vorletztem Jahr setze ich mich zusammen mit dem Generalsekretär der
gemeinnützigen Organisation Antiarmuts-Netzwerk, Makoto Yuasa, für die
Unterstützung von Menschen ein, die an Orten wie dem haken-mura von Armut
und Not bedroht sind. Dieses Engagement hat mich daran erinnert, dass der
Begriff „obdachlos“ zwei Bedeutungen hat. Die erste Bedeutung ist eine Person,
die „ohne Unterkunft“ ist, also ohne einen Platz zum Leben im physischen Sinne.
Aber die zweite und wichtigere Bedeutung dieses Begriffs bezeichnet den Zustand
eines Menschen, der keinerlei Familienangehörige hat, die ihm in Zeiten der Not
beistehen könnten. Niemand kann allein durch das Leben schreiten. Wenn jemand
Ärger hat, Rückschläge oder einen Zusammenbruch erleidet, ist man nur dank der
Unterstützung der Menschen um einen herum in der Lage, wieder auf die Füße zu
kommen. In Japan waren es bislang die Familien, die Kommunen und die
Unternehmen, die diese Funktion ausübten. Aber diese traditionellen Quellen der
Hilfe sind in hohem Maße verloren gegangen, und heute nehmen gesellschaftliche
Ausgrenzung und Ungleichheiten immer mehr zu. Ob nun jüngere Menschen in
Internetcafés übernachten oder ältere Menschen, die allein leben und von ihrer
Gemeinschaft getrennt sind: Einsamkeit ist ein Problem, das immer mehr Menschen
betrifft: Junge und Alte, Männer und Frauen. Für die Starken mag diese Befreiung
von alten Fesseln mehr Freiheit bedeuten, für die Schwachen aber birgt dies das
Risiko, die letzten Lebenstage allein verbringen zu müssen.
Ich identifiziere mich stark mit dem Ethos der „persönlichen Hilfe“, die Herr
Yuasa und seine Mitstreiter gewähren. Bei diesem Ansatz steht ein fachkundiger
persönlicher Helfer bereit, der den Menschen Rat erteilt, wenn sie aus den
unterschiedlichsten Gründen in Not geraten sind. Auf diese Weise erhalten sie
die notwendige Unterstützung in einer persönlichen und kontinuierlichen Art und
Weise, die über die vertikale Aufteilung der verschiedenen Systeme und Rahmen
hinaus wirkt. Während noch mehr getan werden muss, um die staatlichen Stellen,
die soziale Dienstleistungen anbieten, zu Einrichtungen umzugestalten, die alle
denkbaren Dienstleistungen aus einer Hand anbietet, bestehen andererseits doch
auch Grenzen in Bezug auf Zeit und Raum. Persönliche Hilfen, die Dienste in der
Art eines „An die Hand-Nehmens und Begleitens“ anbieten, können über diese
Grenzen hinweg agieren, indem sie Dienstleistungen aus einer Hand anbieten, die
von einer einzigen Person gewährt werden. Mittels solcher Anstrengungen, die mit
einer Vielzahl von entsprechenden Organisationen und sozialen Ressourcen
verknüpft sind, streben wir eine Gesellschaft an, die jeden Einzelnen
einschließt und in der keiner von den Netzwerken zur gegenseitigen Unterstützung
ausgeschlossen ist – nicht nur in Bezug auf die Beschäftigung, sondern auch in
Bezug auf die Fürsorge für Behinderte und Ältere, in Bezug auf die Wahrung der
Menschenrechte sowie als Bestandteil unserer Anstrengungen, etwas gegen die über
30.000 Selbstmorde zu unternehmen, die jedes Jahr in unserem Land geschehen. Das
Neue Konzept des Öffentlichen Dienstes, an dem der vorherige Premierminister
Hatoyama mit Nachdruck gearbeitet hat, wird ebenfalls dazu beitragen, das
Potential solcher Aktivitäten weiter zu verbessern. Regierungsbehörden und
Angestellte des öffentlichen Dienstes können nicht länger allein die
Verantwortung für das Anbieten sozialer Dienstleistungen tragen, wie dies in der
Vergangenheit der Fall war. Wir werden das Engagement der Menschen vor Ort
unterstützen, die sich im Geist der gegenseitigen Hilfe an Aktivitäten wie
Bildung und Kindererziehung, Gestalten von Gemeinschaften, Verbrechens- und
Katastrophenprävention, medizinische Behandlung und Pflege sowie
Verbraucherschutz beteiligen.
4. Eine Außen- und Sicherheitspolitik, die auf einem Gefühl der Verantwortung
beruht
Eine Außen- und Sicherheitspolitik, die auf einem Gefühl der Verantwortung
der Bürgerinnen und Bürger beruht
Die dritte Herausforderung für die Politik ist eine Außen- und
Sicherheitspolitik, die auf einem Gefühl der Verantwortung beruht.
In meinen jungen Jahren diskutierte ich über internationale Politik nicht auf
der Grundlage von Ideologien, sondern von Pragmatismus. Ich nahm an zahlreichen
Lehrveranstaltungen unter der Leitung von Prof. Younosuke Nagai teil, der das
berühmte Werk Heiwa no Daishou („Der Preis des Friedens“) schrieb. Wie soll
unsere Außenpolitik gestaltet werden, damit Japan einen „ehrenvollen Platz in …
der internationalen Gesellschaft einnimmt“, wie es in der Präambel unserer
Verfassung heißt? Im Rahmen der Diskussionen mit Prof. Nagai lernte ich, dass
Außenpolitik nicht allein darauf beruhen kann, passiv auf andere Länder zu
reagieren. Wie wollen wir Japan formen? Sind wir darauf vorbereitet, auch einen
Preis zum Wohle unseres Landes zu zahlen? Ich glaube, dass jeder Einzelne in
unserem Land sich dieser Verantwortung bewusst sein muss und dass unsere
Außenpolitik vor diesem Hintergrund gestaltet werden sollte.
Heutzutage sieht sich die internationale Gemeinschaft vor große
Herausforderungen gestellt, die einer tektonischen Verschiebung gleich kommen.
Diese Veränderungen erstrecken sich nicht allein auf die Wirtschaft, sondern
auch auf die Außenpolitik und den militärischen Bereich. In dieser Situation
müssen wir unseren Standpunkt innerhalb der Staatengemeinschaft deutlich machen
und eine Außenpolitik verfolgen, die sich auf einem „ausgewogenen Pragmatismus“
gründet.
Grundlegende Vorstellungen in Bezug auf die Außen- und Sicherheitspolitik
Japan ist ein maritimer Staat am Rand des Pazifischen Ozeans und
gleichzeitig auch ein asiatisches Land. Bei der Gestaltung von Japans
Außenpolitik werde ich diesen doppelten Charakter ausreichend berücksichtigen.
Konkret wird die Japanisch-Amerikanische Allianz der Eckstein unserer
Außenpolitik bleiben, während ich zur selben Zeit unsere Partnerschaft mit den
Ländern Asiens verstärken werde.
Die Japanisch-Amerikanische Allianz kann als ein Vermögen bezeichnet werden, das
auf internationaler Ebene miteinander geteilt wird. Denn es trägt nicht nur zur
Verteidigung Japans bei, sondern darüber hinaus auch zu Stabilität und Wohlstand
in der Region Asien-Pazifik. Ich werde dabei fortfahren, unser Bündnis
kontinuierlich auszubauen.
In Bezug auf unsere Nachbarländer, die größtenteils in Asien liegen, werden wir
unsere Beziehungen zu ihnen auf den unterschiedlichsten Gebieten, wie etwa
Politik, Wirtschaft und Kultur, stärken, und in Zukunft streben wir die
Gestaltung einer ostasiatischen Gemeinschaft ein. Mit China werden wir unsere
Beziehungen auf der Grundlage eines gegenseitigen Nutzens, die sich auf
gemeinsamen strategischen Interessen gründen, weiter vertiefen, während wir mit
der Republik Korea eine zukunftsorientierte Partnerschaft anstreben. Mit Blick
auf die japanisch-russischen Beziehungen werden wir fortgeschrittene Beziehungen
anstreben, indem wir Politik und Wirtschaft als zwei Räder derselben Achse
ansehen. In diesem Zusammenhang werde ich mich mit ganzer Kraft für die Lösung
des Problems der Nördlichen Territorien einsetzen – die größte noch ausstehende
Frage in den Beziehungen zwischen Japan und Russland – um auf diese Weise den
Abschluss eines Friedensvertrags zu erreichen. Wir werden unsere Partnerschaft
mit den Mitgliedern der ASEAN, Indien und anderen Ländern ausweiten. Im
kommenden Herbst werde ich als Vorsitzender eine aktive Rolle beim APEC-Gipfel
in Yokohama übernehmen. Wir werden damit fortfahren, Economic Partnership
Agreements (EPAs) sowie wirtschaftliche Partnerschaften auf regionaler Ebene im
Einklang mit institutionellen Reformen im Inland zu vereinbaren.
Japan wird zudem eine aktive Rolle bei globalen Fragen spielen. Wir werden bei
den internationalen Verhandlungen zum Klimawandel in engem Zusammenwirken mit
den Vereinigten, der EU und den Vereinten Nationen eine führende Rolle beim
Engagement für die COP16 einnehmen, damit ein fairer und effektiver
internationaler Rahmen geschaffen wird, an dem sich alle führenden Emittenten
beteiligen. Im Herbst dieses Jahres werden wir bei der COP10, die in Nagoya
stattfindet, das internationale Engagement zum Schutz der biologischen Vielfalt
voranbringen. Japan wird sich an vorderster Stelle für die Schaffung einer „Welt
ohne Kernwaffen“ einsetzen. Wir werden unsere Hilfe für den Wiederaufbau
Afghanistans und unsere Unterstützung für Afrika in Übereinstimmung mit den
Zusagen, die wir bei der TICAD IV gemacht haben, fortsetzen, während wir uns
gleichzeitig mit ganzer Kraft für das Erreichen der
Millenniums-Entwicklungsziele einsetzen werden.
In Bezug auf Nordkorea kann der Vorfall der Versenkung einer Korvette der
Republik Korea keineswegs hingenommen werden. Es ist notwendig, die Republik
Korea in jedweder Form zu unterstützen und auf den Vorfall entschlossen und
vereint mit der ganzen Staatengemeinschaft zu reagieren. Japan strebt mittels
einer umfassenden Lösung der ausstehenden Probleme in Bezug auf Nordkorea
einschließlich der Entführungen, der Nuklear- und Raketenfrage sowie einer
Bereinigung der „unglücklichen Vergangenheit“ eine Normalisierung der
Beziehungen zu Nordkorea an. In Bezug auf die Entführungsproblematik werden wir
eingedenk unserer Verantwortung als Regierung alles in unserer Macht stehende
tun, damit alle Opfer so rasch wie möglich nach Japan zurückkehren können. Japan
setzt sich für eine friedliche und diplomatische Lösung mit Iran ein, der
weiterhin Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen verletzt.
Mit Blick darauf, auf das internationale Umfeld im Bereich der Sicherheit zu
reagieren, werde ich den Stand der Verteidigungsfähigkeiten Japans überprüfen
lassen und noch in diesem Jahr die Planungen zur Überprüfung der Richtlinien für
das Verteidigungsprogramm und das nächste mittelfristige Verteidigungsprogramm
ankündigen.
Verlegung des Flugplatzes Futenma
Die US-Militärstützpunkte konzentrieren sich auf Okinawa, und die Menschen
von Okinawa haben erhebliche Lasten getragen. Wir müssen die Verlegung und
Rückgabe des Stützpunktes Futenma sowie die Verlegung eines Teils der Truppen
der US-Marineinfanterie nach Guam auf jeden Fall verwirklichen.
Mit Blick auf die Verlegung des Flugplatzes Futenma bin ich fest entschlossen,
in Übereinstimmung mit dem japanisch-amerikanischen Abkommen, das Ende Mai
vereinbart wurde, und auch in Übereinstimmung mit der entsprechenden
Entscheidung des Kabinetts, eine Reduzierung der Lasten Okinawas zu erreichen.
Okinawa ist eine Region, die eine einzigartige Kultur entwickelt hat, sowie eine
Region, auf die Japan stolz sein kann. Okinawa hat während des letzten
Weltkriegs die schwersten Bodenkämpfe in Japan erfahren, bei denen viele
Menschen ihr Leben verloren. Am 23. Juni finden zum 65. Jahrestag des Endes der
Schlacht von Okinawa die Feierlichkeiten zum Gedenken an die Gefallenen und
Getöteten statt. Ich möchte mein Engagement für die Zukunft von Okinawa mit
meiner Teilnahme an dieser Feier beginnen, in der daran erinnert wird, welch
große Tragödie Okinawa erlebt hat.
5. Schlussbetrachtungen
Wie ich eingangs ausgeführt habe, besteht die Aufgabe meiner Regierung darin,
den Stillstand zu beenden, der seit fast 20 Jahren andauert und Japan wieder zu
einem Land voller Vitalität zu machen. In dieser Regierungserklärung habe ich
den Weg vorgegeben, den wir beschreiten werden. Es bleibt die Frage, ob wir in
der Lage sind, unsere Vorhaben auszuführen.
Der Mangel an politischer Führung war der Hauptgrund dafür, dass in der
Vergangenheit in Japan Reformen, die auch Ziele auf gesamtstaatlicher Ebene
beinhalteten, fehlschlugen. Auch wenn es Maßnahmen gab, die den Interessen
einzelner Gruppierungen und bestimmter Regionen dienten, bestand ein Mangel an
politischer Führung, die die Zukunft des Landes als Ganzes im Blick hat und
Reformen vorantreibt. Führung dieser Art kann nicht ausschließlich aus einzelnen
Politkern oder Parteien entstehen. Ob es mir gelingen wird, diese Art von
Führung zu zeigen, hängt davon ab, dass ich meinen Landsleuten eine deutliche
Vision von Japan aufzeige, sowie dass sie mir ihr Vertrauen schenken und mir das
Startsignal für die Verwirklichung dieser Vision erteilen.
Meine heutige Rede war die erste einer ganzen Reihe von Gelegenheiten, bei denen
ich meine Vision präsentieren werde. Ich hoffe sehr, dass Sie dieser von mir
aufgezeigten Vision beipflichten und mir Ihr Vertrauen schenken werden. Ich
möchte diese Regierungserklärung mit der aufrichtigen Bitte an die Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes schließen, mir ihre Unterstützung zuteil werden zu
lassen, während ich mich darum bemühen werde, als Premierminister mit
entschlossener Führung zu wirken.
zurück zur Übersichtsseite Außenpolitik