Am 29. November 2003 wurden der japanische Diplomat Katsuhiko Oku, sein
junger Kollege Masamori Inoue und ihr irakischer Fahrer südlich von Tikrit,
Irak, von Unbekannten erschossen. Oku war als Botschaftsrat (er wurde
postum zum Botschafter befördert) längerfristig in den
Irak entsandt worden, um verschiedene Aufgaben der japanischen Regierung im
Zusammenhang mit dem Wiederaufbau des Landes wahrzunehmen. So prüfte er, was
die Menschen im Irak für den Wiederaufbau ihres Landes benötigen
und sorgte dafür, dass die japanischen Hilfsprojekte im Land effizient durchgeführt
werden. Den nachfolgenden Artikel hat er während
seines Aufenthalts in Bagdad verfasst.
Neues aus Japan gibt in dieser Ausgabe
das Manuskript leicht gekürzt wieder.
Die Rolle der
Vereinten Nationen beim Wiederaufbau des Irak
von Katsuhiko Oku
Ein Schock für die
Menschen im Irak
Am Nachmittag des 19. August 2003 hörte ich in der jordanischen Hauptstadt
Amman, von wo aus ich nach dem Ende meines Sommerurlaubs nach Bagdad
weiterreisen wollte, plötzlich eine schockierende Nachricht. Das Canal-Hotel
im Nordosten Bagdads, das als Sitz der Vereinten Nationen im Irak diente,
war durch einen Bombenanschlag weitgehend zerstört worden.
Bereits Anfang August, als auf die Jordanische Botschaft in Bagdad ein
Bombenanschlag verübt worden war, hatte man sich insgeheim gefragt, ob sich
die Angriffe nun nicht mehr nur auf die amerikanischen Soldaten beschränkten.
Dass aber auch die VN ein Ziel sein könnten, daran hatte niemand geglaubt.
Als ich am nächsten Tag nach Bagdad zurückkehrte, spürte ich gleich, dass
dieser Anschlag für die Menschen im Irak, die der Übergangsregierung unter
Führung der Vereinigten Staaten skeptisch gegenüberstanden, ein großer
Schock war und sie tief beunruhigte. Die Skepsis der einfachen Menschen im
Irak gegenüber den Beatzungsbehörden, denen es bei Temperaturen von bis zu
50 Grad Celsius nicht gelang, die Sicherheit und die lebensnotwendige
Infrastruktur wie Stromversorgung zu gewährleisten, nahm weiter zu. Da sich
trotz der erlangten Freiheit das Leben gegenüber der Vorkriegszeit
verschlechterte, hatte die anfänglich herrschende positive Einstellung
gegenüber den US-Streitkräften deutlich nachgelassen. Die meisten Iraker
glauben, dass allein die VN ihnen wirklich helfen können. Uns Mitarbeitern
der Coalition Provisional Authority (CPA) und den US-Streitkräften erscheint
diese Auffassung - ehrlich gesagt - nicht unbedingt fair gegenüber unserem
Engagement. Jedoch ist dies ein Beweis dafür, dass die VN mit ihren
Beiträgen im Bereich humanitäre Hilfe bei den Menschen im Irak trotz ihrer
ausländischen Provenienz eine besondere Stellung einnehmen. Gerade deshalb
war der Schock nun besonders groß. Es ist noch nicht abzusehen, welche
Auswirkungen der Anschlag auf die künftige Rolle der VN haben wird, jedoch
bildet er für den weiteren Weg des Iraks nach dem Krieg einen
einschneidenden Wendepunkt.
Der bei diesem Anschlag ums Leben gekommene Sonderbeauftragte des
VN-Generalsekretärs für den Irak, Sergio de Mello, hatte nach Annahme der
Resolution 1483 des Sicherheitsrates (vom 22. 05. 2003) gegenüber dem Chef
der CPA, Paul Bremer, die Präsenz der VN allmählich ausgebaut. Von Seiten
der CPA bestand nun durchaus die Bereitschaft, die kooperativen Beziehungen
zu den VN weiter zu vertiefen, als dieser Anschlag geschah. Sollten die VN
sich nun zurückziehen, entspräche dies genau der Absicht der Terroristen.
Die jetzige Situation im Irak bietet uns zahlreiches Anschauungsmaterial
dafür, ernsthaft darüber nachzudenken, welche Aufgaben die
VN angesichts der Vorherrschaft der Vereinigten Staaten innerhalb der
internationalen Gemeinschaft erfüllen können.
Stärkeres Engagement der Vereinten Nationen im Irak
Vielen dürfte nicht bekannt sein, dass der Irak zu den Gründungsmitgliedern
der VN zählt. Die Geschichte der Beziehungen zwischen dem Irak und den VN
ist ironischerweise dadurch geprägt, dass jedes Mal, wenn Saddam Hussein
einen Konflikt mit einem Nachbarstaat auslöste, sich die Beziehungen
zwischen dem Irak und den VN intensivierten. Das geschah während der
Überwachung des Waffenstillstands nach dem acht Jahre währenden Krieg
zwischen dem Irak und dem Iran auf der Grundlage der Resolution 678 des
Sicherheitsrates, bei der Billigung der Anwendung von Gewalt durch die
internationalen Streitkräfte im Golfkrieg 1991 sowie später erneut bei der
Einrichtung der Flugverbotszonen im Irak. Schließlich gab es noch die
humanitäre Hilfe im Rahmen des Programms Öl-für-Lebensmittel sowie das
Inspektionsteam der VN für die Suche nach Massenvernichtungswaffen. Die
Beziehungen zwischen den VN und dem Irak vertieften sich dadurch immer mehr.
Wie kommt es, dass sich das Verhältnis zwischen den VN und dem Irak -
insbesondere in Bezug auf Sicherheitsfragen - so sehr vom Engagement der VN
im Rahmen anderer Konflikte weltweit unterscheidet? Ein Grund dürfte sein,
dass Ereignisse im Irak das Kräfteverhältnis in der ganzen Region Mittlerer
Osten beeinflussen können. Wir alle erinnern uns noch gut an den Konflikt,
der unmittelbar vor dem Krieg zwischen dem von den Vereinigten Staaten und
Großbritannien angeführten Lager, das die Anwendung militärischer Gewalt
gegenüber dem Irak für unverzichtbar hielt, und dem anderen Lager unter der
Führung Frankreichs, Russlands und Deutschlands bestand,
das eine
Fortsetzung der Inspektionen durch die VN forderte. In diesem Zusammenhang
gestaltet sich die Position der VN trotz der Annahme der Resolution 1483 des
Sicherheitsrates, die die Unterstützung der Rolle der VN in der Verwaltung
des Iraks nach dem Krieg festlegt, außerordentlich komplex.
Für den Wiederaufbau vor Ort sind die Vereinten Nationen unerlässlich
Schon vor der Erklärung von US-Präsident George W. Bush vom 1. Mai 2003,
dass die wichtigsten Kampfhandlungen im Irak beendet seien, hatten
Hilfsorganisationen der VN ihre Tätigkeit im Irak wieder aufgenommen. Anfang
April, noch während der Kämpfe um Bagdad, war ein Expertenteam des
Kinderhilfswerks der VN (UNICEF) mit der Versorgung mit Wasser und
Medikamenten im Südirak befasst, insbesondere in der Umgebung von Basra und
Umm Qasr. Während der Vorgänger der CPA, das Office of Reconstruction and
Humanitarian Aid (ORHA) in Kuwait noch die Pläne für die Entwicklung des
Nachkriegsiraks zusammenstellte, hatte das UNICEF-Team bereits die
Wasserversorgung im einzigen Krankenhaus von Umm Qasr wiederhergestellt. Als
einer der ersten Japaner, die seit März offiziell in den Irak gekommen waren,
hatte ich das Glück, Mitglied dieses Teams zu sein.
Ich erinnere mich, wie überrascht ich war, als das UNICEF-Team sich selbst
als Untersuchungsteam bezeichnete. Es hatte zahlreiche Wassertanks aus
Polyvinyl mitgebracht, die nun sofort beim Krankenhaus aufgebaut wurden. Das
war zu einer Zeit, als die Wasserversorgung in den befreiten Zonen des Iraks
komplett zusammengebrochen war und große Teile des Landes von der
Wasserversorgung der UNICEF, die mit gemieteten Tankwagen aus Kuwait
durchgeführt wurde, abhängig waren. Chris Klein-Beekman, der beim Anschlag
auf das VN-Hauptquartier ums Leben kam, hatte mir erzählt, dass mit diesen
LKW jeden Tag etwa sechzig Tankladungen Wasser transportiert wurden.
Die Vorbereitungen dafür, so erfuhr ich, hatten bereits vor dem Krieg mit
der sorgfältigen Prüfung der irakischen Einrichtungen in den Sektoren
medizinische Versorgung und Bildung durch UNICEF begonnen, so dass - wenn
auch als Interimslösung - die Tätigkeit sofort aufgenommen werden konnte.
Bisher hatte ich immer geglaubt, dass die VN-Hilfsorganisationen sich durch
hohe Verwaltungskosten und geringe Effizienz auszeichneten. Nun merkte ich,
dass ich falsch gedacht hatte. Dies war ein gutes Vorbild für dringend
benötigte Hilfe.
Die Diskussion um die Vertiefung des Hafens von Umm Qasr, der zu klein war,
um die Schiffe des Welternährungsprogramms (WFP) aufzunehmen, begann
ebenfalls zu dieser Zeit. Die britischen Streitkräfte hatten das Problem als
erste erkannt, und sie fragten mich, ob Japan zusammen mit Großbritannien
die Arbeiten für die Vertiefung des Hafens übernehmen könne. Es bestand die
Sorge, dass sonst die Hilfslieferungen nicht rechtzeitig zu den Menschen im
Irak gelangten. Auch die Mitarbeiter des WFP drangen auf eine rasche Lösung.
Nach japanischen Recht kann, wenn ein Staat über keine funktionsfähige
Regierung verfügt, Japan seine Hilfe nur über Nichtregierungsorganisationen
oder internationale Organisationen anbieten. Ich rief sofort beim
VN-Entwicklungsprogramm (UNDP) in Kuwait an und bat dieses um Zusammenarbeit.
Der verantwortliche Mitarbeiter, der Belgier Peter Ruysseveldt, lachte und
sagte: „Herr Oku, das ist nicht einfach, aber wir versuchen es mal!“
Das Projekt erfuhr einiges Hin und Her - so das Ausscheiden der Briten, als
die britische Ministerin für Internationale Entwicklung, Clare Short,
bestimmte, dass es gegen die Prinzipien verstoße, den Streitkräften zu
helfen, sowie der Versuch des US-Beratungsunternehmens Bechtel, Japan
beiseite zu schieben, indem es erklärte, die Arbeiten würden am nächsten Tag
aufgenommen. Aber Ruysseveldt blieb standhaft und sorgte dafür, dass die
Vertiefung des Hafens von Umm Qasr als japanisches Projekt durchgeführt wird.
Er selbst war vom Anschlag auf das Canal-Hotel nicht betroffen, da er gerade
woanders war, aber seine Frau wurde verletzt.
Dies sind nur einige der Aktivitäten, die die Hilfsorganisationen der VN im
Irak mit japanischer Beteiligung durchführten. Aus eigener Erfahrung möchte
ich sagen, dass die Arbeit dieser Organisationen zweifellos unverzichtbar
ist. Wegen des Bombenanschlags haben nun aber viele nicht-irakische
Mitarbeiter der VN das Land verlassen, so dass der Wiederaufbau erheblich
behindert wird.
[…]
Erfüllen der Vision von Sergio de Mello
Auch wenn die Präsenz der VN im Irak derzeit abnimmt, möchte ich doch daran
erinnern, dass das politische und gesellschaftliche Fundament für die Akzeptanz der
Tätigkeit der VN im Irak bereits vorhanden ist. Auf diesem Fundament muss
aufgebaut werden. Manche glauben, dass die VN ohne amerikanische
Unterstützung machtlos sein werden, solange die Vereinigten Staaten die
einzige wirkliche Großmacht sind. Man kann dies nicht völlig von der Hand
weisen, wie der Lauf der Ereignisse, der zum Beginn der Kampfhandlungen im
Irak führte, gezeigt hat. Jedoch wird die Einsetzung einer
Übergangsregierung sowie einer regulären, auf der neuen Verfassung
beruhenden Regierung viel Zeit und Energie in Anspruch nehmen. Vielleicht
wird die Last für die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten zu groß
werden, um sie allein zu tragen. Letztendlich wird das Engagement der VN
notwendig und entscheidend sein.
Angesichts dessen verfügt die Regierung von Japan über angemessenen
Spielraum, selbst einen Beitrag zum Wiederaufbau des Iraks zu leisten - und
zwar nicht unter Bedingungen, die durch einen Zusammenstoß der islamischen
Kultur mit den nicht-islamischen Kulturen geprägt sind, sondern durch die
Ermunterung islamischer Staaten wie Syrien und Pakistan - nichtständige
Mitglieder des Sicherheitsrates - sich selbst an die Spitze des Kampfes
gegen den internationalen Terrorismus zu stellen. Nur wenn es uns gelingt,
den Wiederaufbau mit dieser Konstellation durchzuführen, können wir die
Vision des VN-Sonderbeauftragten Sergio de Mello erfüllen, der selbst, als
er sterbend unter den Trümmern des Hotels lag, noch darum gebeten hatte,
nicht von seiner Aufgabe entbunden zu werden.
(Auszug aus "Gaiko Forum" Nr. 184)
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