
Rede von Premierminister Shinzo Abe zur Wachstumsstrategie für Japan
am 19.04.2013
Foto: Amt des Premierministers
1. Einleitung
Genau heute vor 213 Jahren, am 19. Tag des 4. Monats, brach ein einzelner Mann von Edo aus zu einer Reise auf. Sein Name war Ino Tadataka, der dafür bekannt ist, dass er die erste vollständige Karte von Japan erstellte. An diesem denkwürdigen Tag also brach er nach Hokkaido auf, um seine allererste Karte zu zeichnen.
Er war damals 55 Jahre alt und hatte sich bereits aus dem aktiven Leben zurückgezogen. In einer Zeit, in der ein Leben gemäß einer damaligen Redensart „fünfzig Jahre währt“, hatte er mit fünfzig Jahren noch einmal das Studium der Astronomie aufgenommen und seine Vermessungsarbeit begonnen.
In den kommenden 17 Jahren legte er eine Strecke von insgesamt 40.000 km zurück – zu Fuß. Das entspricht einer kompletten Umrundung der Erdkugel. Er hat sich in dieser Zeit ganz seinen Vermessungsarbeiten hingegeben. Die Karte, die er schließlich fertigstellte, soll wegen ihrer Exaktheit sogar die Europäer und Amerikaner, die Mitte des 19. Jahrhunderts nach Japan kamen, in Erstaunen versetzt haben.
Wie schwierig eine Aufgabe auch immer sein mag – wenn der feste Wille vorhanden ist, nicht aufzugeben, dann kann jede Aufgabe gemeistert werden. Es ist niemals zu spät, um zu handeln. Das großartige Werk von Ino Tadataka lässt auch uns in der heutigen Zeit Mut schöpfen.
Vier Monate im Amt
Seit dem Antritt meiner Regierung sind vier Monate vergangen. Vor uns stehen die Verzögerungen beim Wiederaufbau, eine langanhaltende Deflation, der sich in einer Krise befindende Bildungssektor, die beschädigte Außenpolitik unseres Landes und die fortgesetzten Herausforderungen in Bezug auf unsere Souveränität.
Gegen diesen wahren Berg von Krisen ziehe ich auch heute, vier Monate nach meinem Amtsantritt, tagtäglich in den Kampf. Allerdings gibt es in der Politik keine Abkürzung nach dem Motto „Es genügt, wenn man einen bestimmten Knopf drückt und das Problem ist gelöst“.
So wie Ino Tadataka Schritt für Schritt gewandert ist und dabei allmählich seine Karte gezeichnet hat, so gibt es auch für uns keinen anderen Weg, als eine Entscheidung nach der anderen zu treffen und diese dann umzusetzen.
In Bezug auf die Verzögerungen beim Wiederaufbau wurde das Amt für Wiederaufbau in den Vordergrund gerückt und es werden nun Strukturen geschaffen, durch die es unmittelbar mit den betroffenen Menschen vor Ort verbunden wird. Ich selbst und der Minister für Wiederaufbau, Takumi Nemoto, reisen jeden Monat in die betroffenen Gebiete und hören uns an, was uns die Menschen dort zu sagen haben. Prozeduren, die den Wiederaufbau behindern, werden geändert und neu gestaltet – auf diese einfache Weise finden wir eine Antwort nach der anderen.
Im Februar habe ich die Vereinigten Staaten besucht. Durch meine Zusammenkunft mit Präsident Obama konnten wir nach innen und außen die Botschaft vermitteln, dass das enge Bündnis zwischen Japan und Amerika heute vollständig wiederhergestellt ist. Als Ergebnis dessen habe ich auch entschieden, dass Japan an den Verhandlungen über die Transpazifische Partnerschaft (TPP) teilnimmt. Es ist nun am außenpolitischen Potenzial Japans, diese Verhandlungen erfolgreich zu gestalten. Nach einem Besuch in drei südostasiatischen Staaten, mit denen wir grundlegende Werte teilen, bin ich im letzten Monat auch in die Mongolei gereist. Dies war ein äußerst nützlicher Besuch mit Blick auf die Gestaltung der künftigen Stabilität Ostasiens. Ich werde von einem Standpunkt aus, der die ganze Welt im Blick hat, eine strategische Sicherheits- und Außenpolitik verfolgen.
Auf der anderen Seite setzt Nordkorea seine provokativen Äußerungen fort, und das sicherheitspolitische Umfeld, in dem sich Japan befindet, gestaltet sich nach wie vor schwierig. Jedoch bin ich fest entschlossen, das Leben und die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger Japans unter allen Umständen zu schützen.
Nordkorea muss begreifen, dass seine Provokationen dem Land keinerlei Vorteile bringen; vielmehr wird es seine Situation dadurch weiter verschlimmern.
Es ist sehr wichtig, dass alle Staaten die von den Vereinten Nationen beschlossenen Sanktionen entschlossen umsetzen. Gleichzeitig wird Japan eng mit den Vereinigten Staaten, Südkorea, China und Russland zusammenwirken und Nordkorea die einhellige Botschaft der Staatengemeinschaft vermitteln, dass es mit seinen Provokationen aufhören muss.
Mit Blick auf die Stärkung der Wirtschaft werden wir – um ein anschauliches Bild zu verwenden – „drei Pfeile“ mit ganzer Kraft abschießen.
Auf der Grundlage der Einschätzung, dass hier Maßnahmen „von einer neuen Dimension“ erforderlich sind, haben wir zusammen mit der Bank von Japan eine gemeinsame Erklärung herausgegeben, die den bisherigen Rahmen der Maßnahmen entschlossen umgestaltet. Wir haben deutlich gemacht, dass wir uns für die Realisierung eines Preisstabilitätsziels von zwei Prozent einsetzen werden. Mit Haruhiko Kuroda wurde ein neuer Präsident der Bank von Japan ernannt, der nun eine entschlossene Finanzpolitik umsetzt.
Darüber hinaus wurde ein Nachtragshaushalt verabschiedet und auch die flexible Geldpolitik befindet sich derzeit in der Phase der Umsetzung.
Um die Resultate dieser Maßnahmen so rasch wie möglich den Menschen im Land zugutekommen zu lassen, habe ich die Vertreter der Wirtschaft persönlich darum gebeten, die Löhne und Gehälter nach Möglichkeit anzuheben. Auch beim Steuersystem unterstützen wir die Unternehmen dabei, dass die Gewinne verstärkt an die Mitarbeiter zurückfließen.
Bei den Lohnverhandlungen in diesem Frühjahr erklären inzwischen immer mehr Unternehmen, dass sie ihren Mitarbeitern volle Boni gewähren sowie die Löhne und Gehälter anheben werden.
Wie gestaltet sich die heutige Situation im Vergleich zu der von vor vier Monaten? Ich denke, dass die Stimmung in der Tat positiver geworden ist. Untersuchungen bei den Einzelhändlern haben ergeben, dass die Stimmung in Bezug auf die Konjunktur so gut ist wie seit langem nicht mehr. Und auch die kleinen und mittleren Unternehmen zeigen mit ihren Prognosen in Bezug auf die Konjunktur die besten Werte seit Beginn des 21. Jahrhunderts.
Allerdings dürfen wir uns jetzt nicht ausruhen. Wir müssen vielmehr dafür sorgen, diese Lichtblicke weiter zu vergrößern und nachhaltig zu gestalten. Es ist nun an der Zeit für das Abschießen des „dritten Pfeils“, nämlich für unsere „Wachstumsstrategie“. Diese möchte ich Ihnen heute vorstellen.
2. Drei Schlüsselbegriffe der Wachstumsstrategie
Zunächst möchte ich Ihnen unsere Strategie für Wachstum insgesamt aufzeigen. Hier gibt es drei Schlüsselbegriffe: „Herausforderung – Challenge“, „Entfaltung im Ausland – Open“ sowie „Schöpfung – Innovation“.
Herausforderung – Challenge
Menschen, Kapital, Boden u.a. – bei all diesen Ressourcen werden wir die ihnen innewohnenden Potenziale freisetzen. Zugleich werden wir die Ressourcen neu verteilen: weg von Bereichen mit geringer Produktivität hin zu solchen mit hoher Produktivität. Wachstum ist nichts anderes als die Realisierung dieser Absicht.
Beim Verteilen von Ressourcen besteht der Trend, sich auf bereits bestehende Industriezweige zu konzentrieren. Hier etwas zu verändern, erfordert große Anstrengungen, und man kann hier in der Tat von einer „Herausforderung“ sprechen.
Infolge des ersten abgeschossenen Pfeils strömt nun Kapital in großem Umfang auf den Markt. Der zweite Pfeil hat die Aufgabe, dieses Kapital in die Wachstumsbereiche zu lenken. Staatliche und private Fonds stellen dem Markt Risikokapital zur Verfügung und werden auf diese Weise Investitionen in Wachstumsindustrien generieren.
Im Vorfeld dieser Wachstumsstrategie werden die auf dem Markt entstandenen „Verstopfungen in Bezug auf das Kapital“ beseitigt. Inzwischen ist auch bei den Investitionen des Privatsektors Bewegung zu erkennen. So kann man bei den Ausrüstungsinvestitionen der Unternehmen seit Ende letzten Jahres eine rasche Erholung beobachten.
Auch die Ressource „Mensch“ muss aktiviert werden.
Wir werden eine Gesellschaft gestalten, in der hochqualifizierte Humanressourcen in vollem Umfang agieren können. Dies wird die Produktivität der Gesellschaft als Ganzes steigern.
Welche humanen Ressourcen müssen heute vor allem aktiviert werden? Es sind die Frauen.
Über das Agieren von Frauen wird häufig nur im Kontext der Gesellschaftspolitik gesprochen. Ich beschreite hier einen anderen Weg. Ich denke vielmehr, dass Frauen den Kern unserer Wachstumsstrategie bilden.
Ich bin fest davon überzeugt, dass die volle Entfaltung der außerordentlich großen Fähigkeiten, die in Frauen schlummern, die Antriebskraft dafür bildet, dass Japan, das gegenwärtig von einer Blockade erfasst ist, wieder auf den Weg des Wachstums zurückkehrt. Die konkreten Maßnahmen werde ich Ihnen später näher erläutern.
Die jungen Menschen, die als Träger der Zukunft unseres Landes wirken, müssen zunächst ihre Fähigkeiten in großem Umfang ausweiten. Auch dies werde ich später eingehend erläutern. Hier nur so viel: Ich glaube, dass Japan ohne international ausgerichtete humane Ressourcen in dieser Ära des heftigen internationalen Wettbewerbs nicht bestehen kann.
Entfaltung im Ausland – Open
Wir können diesem heftigen Wettbewerb im globalen Maßstab nicht entkommen. Daher bleibt uns nichts anderes übrig, als sich ihm zu stellen. Dies bildet den zweiten Schlüsselbegriff unserer Wachstumsstrategie: „Entfaltung im Ausland – Open“.
Es reicht heute nicht mehr aus, sich auf die Herstellung hochwertiger Güter (Monozukuri) zu konzentrieren. Vielmehr ist es nun an der Zeit, alles – auch unsere Esskultur, die Medizintechnik, unser Bildungssystem, die Verkehrs- und Energieinfrastruktur – weltweit anzubieten und zu verkaufen.
Zu diesem Zweck müssen wir über die bisherigen Regeln für den Handel mit Gütern hinaus Regeln für neue Bereiche gestalten, etwa in Bezug auf geistigen Besitz, Investitionen sowie Standards und Normen. Aus diesem Grund setzt sich Japan nachdrücklich für Verhandlungen über Wirtschaftspartnerschaften u.a. mit den Ländern in der Region Asien-Pazifik und in Europa ein.
Die Wirtschaftsordnung, die durch die TPP angestrebt wird, wird zweifelsohne die Grundlage für die Aufstellung neuer Regeln im asiatisch-pazifischen Raum als Ganzes bilden. Da Japan sich hier genau im Zentrum befindet, habe ich umgehend entschieden, dass unser Land sich an den Verhandlungen beteiligt.
Geschäfte in den Bereichen Infrastruktur und Systeme liegen in zahlreichen Staaten in den Händen der Regierung. Hier besteht in der Tat eine Welt, in der Außenpolitik auf höchster Ebene Dinge bewegen kann. Die Außenwirtschaftspolitik hat nun wirklich begonnen.
Ich werde in Kürze Russland und den Mittleren Osten besuchen, um in diesen Ländern als Verkäufer auf höchster Ebene aufzutreten und unsere Produkte in einer Vielzahl von Bereichen, etwa bei der Esskultur, der Energietechnologie oder der Medizintechnik, anpreisen.
Insbesondere im Bereich der Medizin verzeichnet Japan ein jährliches Handelsdefizit in Höhe von zwei Billionen Yen. Dies wird in den kommenden fünf Jahren um weitere 800 Milliarden Yen steigen. Da von einem raschen Anstieg der Nachfrage in diesem Bereich in Japan auszugehen ist, müssen wir jetzt handeln, damit das Defizit nicht noch weiter wächst.
Es gibt auf diesem Gebiet auch Sparten, in denen Japan sehr gut aufgestellt ist, etwa die bildgebende Diagnostik mittels CT und MRI – hier ist Japan weltweit führend. Und auch bei der Technologie der Krebsbehandlung mit Hilfe von Teilchenstrahlen hat unser Land einen Spitzenplatz in der Welt inne.
Eihergehend mit dem steigenden Lebensniveau in den Schwellenländern wird dort auch ein Wandel bei den Krankheiten zu beobachten sein. Infektionskrankheiten werden abnehmen, während gleichzeitig Wohlstandskrankheiten wie Krebs und Schlaganfälle zunehmen werden. Auch hier bieten sich für die hochwertige Medizintechnik Made in Japan vielfältige Möglichkeiten.
In Wladiwostok in Russland eröffnet im Mai ein „Zentrum für bildgebende Diagnostik aus Japan“. Ich werde darüber hinaus den anstehenden Russlandbesuch nutzen, um die Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern für den Bau einer Einrichtung zur Behandlung mit Teilchenstrahlen voranzutreiben.
Auch im Mittleren Osten strebe ich im Rahmen meines anstehenden Besuches in den Vereinigten Arabischen Emiraten eine Einigung über ein Konzept für ein gemeinsames modernes Medizinzentrum beider Länder in Abu Dhabi an, das auch modernste Verfahren der Teilchenstrahlenbehandlung anbieten wird.
Um hochwertige Medizintechnik Made in Japan weltweit zu vertreiben, benötigen wir eine Institution, die hier als Träger fungiert. In der kommenden Woche wird daher unter Führung der Regierung ein neuer Rahmen entstehen, an dem sich mehr als zwanzig Unternehmen aus dem Bereich der Medizintechnik sowie über fünfzig medizinische Einrichtungen aus ganz Japan beteiligen werden. Mit diesem neuen Rahmenwerk namens „Medical Excellence Japan“ legen wir die Saat für neues Wachstum durch internationale Kooperation auf dem Gebiet der Medizin.
Schöpfung – Innovation
Die Medizinindustrie in Japan zeichnet sich durch eine hohe Wettbewerbsfähigkeit aus und bringt zahlreiche Innovationen hervor.
Diese Innovationen, die als „wichtige Begegnung von Markt und Technologie“ bezeichnet werden können und die auch innovative „Werte“ schaffen, können aber nur entstehen, wenn öffentlicher und privater Sektor eng zusammenwirken.
Unser Land muss in aller Deutlichkeit eine Vision von unserer Gesellschaft aufzeigen, wie sie sein sollte, um den Bedürfnissen in der Welt gerecht werden zu können. Um dies zu erreichen, müssen Regierung und Privatsektor den Ansatz verfolgen, ihre Investitionen zu konzentrieren und so neue Wachstumsindustrien hervorbringen. Dabei geht es nicht darum, dass unser Land auf ganz bestimmte Industrien abzielt.
Nichts ist wirklich neu, denn vieles gab es auch früher bereits. Nehmen wir z.B. den Bau des Hochgeschwindigkeitszuges Shinkansen auf der Tokaido-Strecke.
„Mit einem Hochgeschwindigkeitszug kann die Strecke zwischen Tokyo und Osaka in drei Stunden bewältigt werden.“ Diese Behauptung wurde erstmals 1957 aufgestellt, als die Fahrt zwischen Tokyo und Osaka noch sieben Stunden in Anspruch nahm – mit einem Schnellzug, wohlgemerkt. Diese Fahrtzeit um mehr als die Hälfte zu verringern, erschien den allermeisten Menschen damals wie ein Traum.
Das ganze Vorhaben war in technischer Hinsicht mit vielen schwierigen Herausforderungen gespickt. Weil sich aber die Regierung ganz dem Ziel, beide Ballungsräume in nur drei Stunden miteinander zu verbinden, verschrieben hatte, wurden zahlreiche Innovationen entwickelt, etwa stromlinienförmige Waggons zur Verringerung des Luftwiderstands oder hydraulische Federungen, um die Erschütterungen abzumildern. Die Eröffnung der Strecke war noch vor den Olympischen Spielen von Tokyo geplant. Es entstand eine große Nachfrage, etwa durch den Bau der vielen Waggons, und diese Nachfrage führte wiederum zur Entstehung zahlreicher Industriezweige in verwandten Bereichen.
Darüber hinaus bedeutete die Realisierung des in aller Welt geteilten Traums vom „Immer schneller“ auch, dass Japans Shinkansen zum Shinkansen der ganzen Welt wurde und die Bahnindustrie sich zu einer Exportindustrie unseres Landes entwickelte.
Das Aufstellen einer Vision unserer Gesellschaft, wie sie sein sollte und das unermüdliche Bestreben, diese Vision zu verwirklichen, schaffen neue Nachfrage und damit auch neue Industrien. Und wenn diese gesellschaftliche Vision weltweit geteilt wird, dann können die entsprechenden Technologien auch in die ganze Welt exportiert werden.
Im Rahmen der zu erstellenden Wachstumsstrategie werden wir jeweils „gesellschaftliche Visionen“ in den Bereichen hohe Lebenserwartung bei bester Gesundheit, Energie, Infrastruktur sowie Belebung der Regionen aufzeigen und dann prüfen, welche Schritte notwendig sind, um diese zu verwirklichen.
3. Wachstumsindustrien, die aus einer Gesellschaft mit hoher Lebenserwartung bei bester Gesundheit hervorgehen
Heute möchte ich Ihnen als typisches Beispiel die Strategie für eine Gesellschaft vorstellen, in der die Menschen auch im hohen Alter gesund sind.
Bisher steht in der Medizin vor allem die Behandlung von Krankheiten im Mittelpunkt. Nach dem Auftreten einer Krankheit wird diese entsprechend behandelt. Diesem Ansatz verdankt Japan, dass es heute das Land mit der höchsten Lebenserwartung weltweit ist. Allerdings heißt es, dass das Durchschnittsalter für ein „gesundes langes Leben“ sechs bis acht Jahre niedriger ist. Das heißt, bis zum Lebensende gibt es eine Zeitspanne, in der die Menschen unter Krankheiten leiden und oft auch bettlägerig sind. Mein Ziel besteht nun in der Verwirklichung einer Gesellschaft, in der bei gleich hohem Alter die Prävention von Krankheiten einen besonders großen Stellenwert hat und die Erhaltung der Gesundheit im Vordergrund steht. Jeder möchte gesund sein – das ist auf der ganzen Welt so. Wenn es gelingt, eine Gesellschaft zu gestalten, in der die Menschen auch im hohen Alter gesund sind, dann können wir, davon bin ich überzeugt, dieses Modell auch weltweit verbreiten.
Reform der Regulierungen und Systeme
Einen Schlüssel dafür bilden die regenerative Medizin sowie die Herstellung neuer Medikamente. Der Nobelpreis für Prof. Yamanaka ist ohne Zweifel ein Symbol für die weltweit führende Stellung Japans in der Forschung auf diesem Gebiet, etwa bei den iPS-Zellen. Um diese Stärken in der Forschung weiter auszubauen, habe ich entschieden, die iPS-Zellforschung in den nächsten zehn Jahren mit rund 110 Milliarden Yen zu fördern.
Allerdings hinkt Japan bei der praktischen Anwendung erheblich hinterher. Ein Vergleich der Zahl der regenerativen Medizinprodukte, die bereits zugelassen sind – dazu zählen auch solche in der Erprobungsphase – zeigt: Während in den USA 97, in Europa 62 und in Südkorea bereits 45 Produkte zugelassen sind, sind es in Japan gerade einmal sechs. Um die praktische Anwendung und die industrielle Nutzung nachdrücklich zu fördern, werden wir die bestehenden Regulierungen und Systeme umfassend reformieren.
Wenn beispielsweise in der regenerativen Medizin der Arzt Körperzellen eines Patienten vermehren und diese im Rahmen einer medizinischen Behandlung wieder auf ihn übertragen möchte, dann muss nach den derzeitigen Vorschriften dies der Arzt selbst tun; es besteht keinerlei Rahmen, um eine externe Institution mit dieser Aufgabe zu betrauen.
Kürzlich habe ich eine Forschungseinrichtung des Tokyo Women’s Medical College besucht. In Zusammenarbeit mit der Fakultät für Ingenieurwissenschaften der Waseda University wird hier die Technologie der „Zellrasen“ genutzt und die Entwicklung einer Vorrichtung, die solche Zellrasen in großer Menge automatisiert herstellt, macht große Fortschritte. Wenn sich diese Technologie erst einmal etabliert hat, werden nicht mehr die transplantierenden Ärzte selbst die Vermehrung vornehmen, sondern diese Aufgabe an externe Institutionen des Privatsektors vergeben. Dies ermöglicht eine sicherere und zugleich kostengünstigere medizinische Behandlung.
Derzeit bereitet meine Regierung einen neuen Gesetzentwurf vor, der die Beauftragung externer Institutionen ermöglichen soll, und ich gedenke, ihn noch in der laufenden Sitzungsperiode dem Parlament vorzulegen.
Bei der Herstellung regenerativer Medizinprodukte wie Ersatzgewebe für Herzmuskel besteht die Notwendigkeit, für diese auf der Grundlage der Vorschriften des Arzneigesetzbuches eine Zulassung zu beantragen. Auch hier möchten wir die Zeitspanne der Überprüfung erheblich reduzieren und werden noch in dieser Sitzungsperiode einen Entwurf für die Reform dieses Gesetzes ins Parlament einbringen, der eine Vermarktung bereits dann zulässt, wenn sich die Wirksamkeit von Produkten bei einer weniger großen Zahl von Patienten als bisher erwiesen hat. Auf diese Weise werden wir ein Umfeld gestalten, das eine raschere praktische Anwendung dieser Produkte ermöglicht.
Mit Hilfe dieses Gesetzentwurfs werden auch die Regulierungen in Bezug auf medizinische Geräte umfassend gelockert. Mit Ausnahme u.a. von Herzschrittmachern wird mittels einer Zulassung durch dritte Institutionen aus dem Privatsektor eine Beschleunigung der Prüfung angestrebt.
Zugleich damit wird auch die Zulassung von Unternehmen, die mit der Herstellung von Medizingeräten befasst sind, erleichtert. Diese müssen sich künftig nur noch registrieren lassen und brauchen keine Zulassung mehr zu beantragen. Damit möchten wir auch mittleren, kleinen und Kleinstunternehmen im Bereich Herstellung hochwertiger Güter (Monozukuri), die über entsprechende Technologien verfügen, die Möglichkeit eröffnen, in diesem Bereich Fuß zu fassen.
Eine japanische Ausgabe der amerikanischen National Institutes of Health (NIH)
Aufgrund einer chronischen Darmentzündung namens Colitis ulcerosa musste ich meine erste Amtszeit als Premierminister beenden. Vor fünf Jahren jedoch wurde ein neues bahnbrechendes Medikament entwickelt, so dass ich mich von dieser Erkrankung erholen und erneut das Amt des Premierministers übernehmen konnte. Tatsächlich aber hat sich die Zulassung dieses Medikaments in Japan 25 Jahre lang verzögert. Einerseits wird die Zeitdauer, die für eine Überprüfung erforderlich ist, immer kürzer. Das Problem besteht vielmehr darin, dass zwischen Entwicklung und Antragstellung sehr viel Zeit verstreicht. Die wichtigste Ursache dafür ist, dass die Bedingungen für das Sammeln von klinischen Daten sowie das Verfahren zur Durchführung der Erprobung hierzulande unzureichend entwickelt sind.
Wenn in einer Universitätsklinik die Erprobung eines Medikaments erfolgen soll, dann lassen sich keine aussagekräftigen Zahlen gewinnen, weil die Zahl der Betten in nur einem Krankenhaus natürlich begrenzt ist. Und wenn man die Betten eines anderen Krankenhauses nutzen möchte, treten oft Probleme auf, weil keine einheitlichen Standards in Bezug auf die Erhebung von Daten bestehen. Dadurch gestaltet sich eine horizontale Kooperation schwierig. Letztendlich führt dies dazu, dass die Entwicklung von neuen Medikamenten viel Zeit in Anspruch nimmt.
Die Entwicklung ganz neuer Technologien etwa im Bereich der regenerativen Medizin birgt hohe Risiken in Bezug auf die Resultate und viele private Unternehmen scheuen sich, diesen Schritt zu gehen. Aus diesem Grund sind die Fortschritte in neuen Bereichen umso geringer, je größer die Herausforderungen sind.
Es gibt ein Land, dass bereits im 19. Jahrhundert vor genau derselben Herausforderung stand: die Vereinigten Staaten.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trat dort, bedingt durch die großen Ströme von Einwanderern, die Angst vor einer Cholera-Epidemie auf. Da man nicht die Zeit hatte, mit der Lösung dieses Problems private Institutionen zu betrauen, wurden in staatlicher Initiative Forschungseinrichtungen gegründet und Maßnahmen gegen die Cholera ergriffen. Aus diesen Anfängen bildete sich im Laufe der Zeit die Organisation der National Institutes of Health (NIH) heraus.
Die NIH führen als staatliches Projekt keine eigenen Forschungen durch, sondern sammeln Daten zur klinischen Forschung sowie zu Erprobungen im In- und Ausland unter Einschluss des Privatsektors. Auch bei den Medikamenten, bei der Behandlung und den Geräten werden alle nur verfügbaren Technologien mobilisiert, um auf schnellstem Wege Maßnahmen gegen die Krankheit zu erforschen, die im Fokus steht. Im Ergebnis können die NIH auf große Erfolge bei der Bekämpfung von Krankheiten in den USA verweisen; so wurde z.B. die Zahl der Herzerkrankungen innerhalb eines halben Jahrhunderts um sechzig Prozent reduziert. Derzeit umfassen die NIH insgesamt 27 Forschungsinstitute von der Krebs- bis zur Allergieforschung mit zusammen 20.000 Mitarbeitern. Damit steht diese Organisation an der Spitze des weltweiten medizinischen Fortschritts.
Um auch in Japan, mit Blick auf eine Gesellschaft mit hoher Lebenserwartung und bester Gesundheit, die allerneuesten Medizintechnologien, angefangen bei der regenerativen Medizin, zu entwickeln, müssen wir als staatliches Projekt einen Ansatz ähnlich dem der NIH verfolgen. Mit anderen Worten: Wir wollen eine Institution schaffen, die als japanische Ausgabe der NIH bezeichnet werden kann.
Dies bedeutet, dass eine einheitliche Plattform gegründet werden muss, die Daten zu klinischen Forschungen und Erprobungen im In- und Ausland sammelt und an der Arzneimittelhersteller, Medizingeräteunternehmen und Krankenhäuser beteiligt sind.
Hierfür müssen öffentlicher und privater Sektor eng zusammenwirken, um die Prozesse von der Forschung bis zur praktischen Anwendung in einem Zug durchzuführen. Meine Regierung wird daher die Führung dabei übernehmen, eine neue Plattform zu erschließen, auf der neueste Medizintechnologien wie regenerative Medizin oder die Herstellung neuer Medikamente erfolgen kann.
Maßnahmen gegen schwere Krankheiten
Vor kurzem erhielt ich einen Brief von einem Mädchen, das in diesem Jahr die Grundschule abgeschlossen hat. Seit ihrer Geburt leidet sie unter einer schweren Fehlfunktion des Dünndarms und ist von klein auf nicht in der Lage, normales Essen zu sich zu nehmen. Sie wurde bereits acht Mal operiert.
In ihrem Brief kamen ihre Hoffnungen in Bezug auf die iPS-Zellforschung zum Ausdruck und sie schloss ihn folgendermaßen: „Wenn erst eine Behandlungsmethode gefunden ist, wird meine Zukunft hell leuchten. Ich möchte vor allem alle Lebensmittel essen können.“
Es ist die Aufgabe der Politik, auch leisen Stimmen, die voller Zuversicht und Hoffnung sind, zuzuhören und ihnen zu antworten. Da ich selbst von einer schweren Krankheit genesen bin und so in die Lage versetzt wurde, das Amt des Premierministers erneut zu übernehmen, empfinde ich es als meine besondere Verpflichtung, Menschen zu helfen, die unter schweren Krankheiten leiden.
Mit Blick auf die anstehende Gründung einer japanischen Ausgabe der NIH möchte ich im Rahmen eines staatlichen Projektes auch die Erforschung schwerer Krankheiten weiter beschleunigen. Dies wird uns in die Lage versetzen, eine Gesellschaft zu gestalten, in der auch diejenigen, die heute an einer schweren Krankheit leiden, voller Hoffnung in die Zukunft schauen können.
Gerade dies ist es, was eine Gesellschaft mit hoher Lebenserwartung und bester Gesundheit ausmacht. Ich möchte diese Vision als einen wichtigen Pfeiler meiner Wachstumsstrategie vorantreiben, die dann in neue Industrien münden wird.
4. Eine Wachstumsstrategie mittels Teilhabe aller Menschen
Es geht aber nicht nur um Menschen, die an schweren Krankheiten leiden. Vielmehr besteht die Wachstumsstrategie darin, eine Gesellschaft zu schaffen, an der alle Menschen, wenn sie nur den Willen dazu haben, aktiv teilhaben können.
Sowohl alte als auch junge Menschen sowie Menschen mit Behinderungen und Krankheiten sollen in vollem Umfang aktiv werden, wenn sie dies wirklich wollen. Niemand soll sich wegen eines ein- oder zweimaligen Scheiterns unterkriegen lassen; vielmehr wollen wir eine Gesellschaft, in der jeder sich so oft er will und entsprechend seinen Fähigkeiten neuen Herausforderungen stellen kann.
Diese Teilhabe aller Menschen an der Gesellschaft von ihrem jeweiligen Ort und entsprechend ihren jeweiligen Fähigkeiten bildet meiner festen Überzeugung nach den Schlüssel für die künftige Wachstumsstrategie.
Shimomura Osamu, der Initiator des „Plans zur Verdoppelung der Einkommen“ während der Ära des hohen Wirtschaftswachstums in den 1960er Jahren, meinte in einem Aufsatz über die Möglichkeiten und Bedingungen für wirtschaftliches Wachstum, dass Wachstumspolitik darin bestehe, ein Umfeld zu bereiten, in dem die Menschen in Japan die ihnen innewohnenden Potenziale wirklich entfalten können. Er wies darauf hin, dass es trotz des außerordentlich großen latenten Potenzials von damals 45 Millionen Arbeitnehmern nur wenig Gelegenheit gebe, die schöpferischen Potenziale voll zur Geltung zu bringen. Er folgerte daraus: Wenn es nur ausreichend „Gelegenheit“ gibt, dann ist die japanische Wirtschaft auch in der Lage zu wachsen. Diese Anmerkungen von Dr. Shimomura haben meiner Meinung nach auch heute unverändert Bestand.
Wechsel des Arbeitsplatzes ohne Arbeitslosigkeit
In den drei Monaten, die seit dem Beginn meiner Regierung Ende letzten Jahres vergangen sind, hat die bis dahin stagnierende Zahl der Stellenausschreibungen um 40.000 Stellen zugenommen. Der erste und der zweite Pfeil, die abgeschossen wurden, waren somit in Form von neuer Beschäftigung erfolgreich.
Wir müssen nun einen sanften „Wechsel“ der humanen Ressourcen gestalten – weg von den gereiften Industrien hin zu den Wachstumsindustrien, in denen die Beschäftigung weiter zunimmt. Eine Strategie für Wachstum besteht darin, einen Wechsel des Arbeitsplatzes ohne Arbeitslosigkeit zu erreichen.
Um den Anforderungen der Wachstumsindustrien zu entsprechen, müssen die Arbeitnehmer ihre Fähigkeiten weiter verbessern. Wir werden daher die „Zulagen zur Unterstützung eines Wechsels des Arbeitsplatzes“ erheblich ausweiten, um die aufnehmenden Unternehmen bei den Kosten für Aus- und Weiterbildung zu unterstützen.
Als ersten Schritt dahin, dass Wachstumsindustrien und Arbeitnehmer besser zueinander passen, wird zudem das „System für Arbeitsverhältnisse auf Probe“, mit dem eine dreimonatige probeweise Tätigkeit unterstützt wird, ausgeweitet.
Zudem wird das bestehende System verbessert, das nur in Anspruch genommen werden kann, wenn der Arbeitsplatz durch die Arbeitsvermittlung der Regierung vermittelt wurde. Wir werden es so umgestalten, dass es auch dann von den Arbeitssuchenden genutzt werden kann, wenn die Vermittlung durch private Agenturen oder durch Hochschulen erfolgte. Zugleich ist dies auch der erste Schritt, um das Engagement des privaten Sektors dahingehend zu nutzen, den Wechsel von Arbeitsplätzen besser an die Bedürfnisse von Arbeitgebern und -nehmern anzupassen.
Zudem wird auch der Umfang der geförderten Personen erheblich ausgeweitet, indem nun beispielsweise auch Hochschulabsolventen, die noch keinen Arbeitsplatz gefunden haben, in den Genuss der Förderung kommen können.
5. Junge Menschen, die in der Welt bestehen können
Die jungen Menschen, die in Zukunft als Träger unseres Landes wirken werden, müssen ihre Fähigkeiten in großem Umfang ausweiten.
Junge Menschen, wie sie sich die Unternehmen wünschen – beispielsweise Sachbearbeiter im Bereich Sozialversicherungsrecht – die aus eigener Initiative verschiedene Qualifikationen erwerben, werden wir durch die Gründung eines „Systems zur Verbesserung der Karriere aus eigenem Antrieb“ unterstützen.
Allerdings verlangt die heutige Zeit mit ihrem heftigen internationalen Wettbewerb vor allem „internationale Humanressourcen“. Was Japan jetzt braucht, sind junge Menschen, die in der Welt bestehen können.
Tatsächlich aber ist bei den jungen Japanerinnen und Japanern heute die Tendenz zu beachten, dass sie sich lieber nach innen orientieren. 2004 lag die Zahl der jungen Menschen aus Japan, die ein Studium im Ausland absolvierten, bei 83.000 und erreichte damit einen Höchststand. Danach aber ist ein steter Rückgang zu verzeichnen, und 2010 lang die Zahl noch bei 58.000; das ist ein Rückgang um etwa ein Drittel.
Daher hat meine Regierung zunächst das Austauschprogramm „JENESYS 2.0“ ins Leben gerufen. Mit diesem Programm wollen wir viele junge Menschen aus asiatischen Ländern nach Japan holen, um dort mit jungen Japanerinnen und Japanern in Kontakt zu kommen. Wir hoffen, dass sich die jungen Menschen in Japan davon anregen lassen, das Verständnis mit den anderen asiatischen Staaten zu vertiefen und den Blick auch auf die Welt außerhalb Japans zu richten.
Die erste Aufgabe besteht dabei in der Sprache als Grundlage der Kommunikation. Von dem früheren Premierminister Takahashi Korekiyo ist bekannt, dass er aus Unkenntnis der Sprache heraus in den Vereinigten Staaten einen Vertrag unterschrieb, der ihn gleichsam versklavte. Dies bildete für ihn den Anlass, sich ganz dem Erlernen der englischen Sprache zu widmen. Natürlich geschah dies zu einer anderen Zeit als heute, aber ich denke, dass wir in umfassender Weise ein Umfeld gestalten müssen, das die jungen Menschen in Japan dazu drängt, sich englische Sprachkenntnisse anzueignen, die sie dann auch anwenden können. Auf Worte sollen natürlich auch Taten folgen. Ich habe daher verpflichtend praktische Englischkenntnisse für die Aufnahmeprüfung für Beamtenanwärter vorgeschrieben.
Verschieben der Arbeitsplatzsuche nach hinten
Wenn junge Menschen sich schon der Herausforderung stellen, ein Studium im Ausland aufzunehmen, dann sollten ihnen dadurch auch keine Nachteile entstehen.
Eine Umfrage hat jedoch ergeben, dass fast siebzig Prozent aller Studierenden als „Hindernis für ein Auslandsstudium“ die Gefahr anführen, nach der Rückkehr nach Japan ein ganzes Jahr für die Suche nach einem Arbeitsplatz zu verlieren. Hinzu kommt, dass diese Suche vor allem dann stattfindet, wenn das dritte Studienjahr bereits begonnen hat. Deshalb weisen die Studierenden darauf hin, dass sie sich dann nicht auf ihr Studium konzentrieren können. In dieser Zeit des heftigen internationalen Wettbewerbs können wir es nicht zulassen, dass junge Menschen, die als künftige Träger unseres Landes fungieren, durch die Suche nach einer Anstellung daran gehindert werden, ihre Fähigkeiten zu verbessern.
Wir werden daher dafür sorgen, dass Studierende sich drei Jahre lang auf ihr Studium konzentrieren können, um dann nach der Rückkehr nach Japan die Suche nach einer Anstellung ohne Verspätung aufzunehmen. Der bisher geltende Zeitrahmen für die Suche nach einer Anstellung soll dafür drei oder vier Monate nach hinten verschoben werden. Ab März, also in den Frühlingsferien soll dann die Werbe- und Informationsphase beginnen, während ab August, also zu einem Zeitpunkt, wenn auch die Studierenden aus dem Ausland wieder zurückgekehrt sind, die Bewerbungs- und Auswahlphase laufen soll.
Diese Bitte habe ich vor kurzem an die drei führenden Unternehmensverbände Japans, darunter den Keidanren, gerichtet, und ich habe von dort die Antwort erhalten, dass man dieser Angelegenheit aufgeschlossen gegenüberstehe.
Wir werden uns dafür einsetzen, dass die jungen Menschen ihre eigenen Fähigkeiten weiter verbessern können, und wir werden sie in die Lage versetzen, eine Anstellung zu finden, bei der sie diese Fähigkeiten auch entfalten können.
6. Ein Japan, in dem die Frauen leuchten
Ich möchte nun endlich zum Agieren der Frauen kommen, die im Zentrum meiner Strategie für Wachstum stehen.
Es gibt das ehrgeizige Ziel, „bis 2020 den Anteil der Frauen in Führungspositionen in allen gesellschaftlichen Bereichen auf mehr als dreißig Prozent zu steigern“.
Diesbezüglich habe ich kürzlich die drei führenden Unternehmensverbände gebeten, in allen börsennotierten Unternehmen Vorstands- und Führungsposten aktiv mit Frauen zu besetzen. Zunächst soll mindestens ein Vorstandsposten mit einer Frau besetzt sein.
Auch hier gilt wieder, dass auf Worte auch Taten folgen müssen. In der LDP sind zwei der vier Führungsposten mit Frauen besetzt, etwas, was es zuvor noch nie gab. Beide fungieren als weibliche Führungspersönlichkeiten, die ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit unseres Landes stehen. Womöglich ist es ihnen zu verdanken, dass sich die Unternehmensverbände bereiterklärt haben, die von mir geäußerte Bitte wohlwollend zu prüfen.
Allerdings gestaltet sich die Realität in der Gesellschaft nach wie vor schwierig. Das Problem, dass der Anteil der berufstätigen Frauen in den Dreißigern und Vierzigern einen großen Rückgang verzeichnet und das als sogenannte „M-Kurve“ bekannt ist, zeigt zwar erste Anzeichen für eine Verbesserung der Situation, aber im Vergleich zu den europäischen Ländern hinkt Japan immer noch hinterher. Denn nach wie vor ist es für viele Frauen bittere Realität, sich zwischen zwei Optionen entscheiden zu müssen: entweder für Kinder oder für den Beruf.
Beschleunigter Abbau der Wartelisten bei der Kinderbetreuung
Derzeit warten im ganzen Land 250.000 Kinder auf einen Betreuungsplatz. Dies ist eine schwierige Situation.
Allerdings gibt es eine Kommune, die früher als diejenige mit den längsten Wartelisten für einen Betreuungsplatz in ganz Japan galt, und der es in nur drei Jahren mit verschiedensten Maßnahmen gelungen ist, die Zahl der Kinder auf Wartelisten auf null zu senken. Diese Kommune ist die Stadt Yokohama. Dies beweist: Es ist möglich, wenn man etwas unternimmt. Die Frage lautet daher: Unternimmt man etwas oder unternimmt man nichts?
Damit die Wartelisten für Betreuungsplätze möglichst rasch verschwinden, möchte ich das „Modell Yokohama“ auf das ganze Land übertragen. Zunächst einmal werden wir auch die Betreuungseinrichtungen, die bisher nicht anerkannt sind und die folglich auch keine staatliche Förderung erhalten, unter der Voraussetzung, dass sie eine künftige Anerkennung anstreben, umfassend unterstützen. Kleinere Kitas mit weniger als zwanzig Plätzen, die bisher ebenfalls keine Unterstützung erhielten, sowie die längerfristige Betreuung in Kindergärten werden nun ebenfalls gefördert. Darüber hinaus werden wir beispielsweise durch die Nutzung von gemieteten Räumlichkeiten die Gründung von Betreuungseinrichtungen sowie die Schaffung neuer Plätze in diesen Einrichtungen unterstützen. Auch die Voraussetzungen für Betriebskindergärten werden gelockert, um so einen rasch wirkenden Rahmen für eine Kinderbetreuung zu gestalten.
Für all diese neuen Einrichtungen müssen auch Erzieherinnen und Erzieher gefunden werden. Insgesamt gibt es in Japan 1,13 Millionen Personen, die über eine berufliche Qualifikation als Erzieherin und Erzieher verfügen. Allerdings üben davon gerade einmal 380.000 Personen diesen Beruf auch aus. Fast siebzig Prozent arbeiten aufgrund von Heirat und Geburt eigener Kinder nicht länger und kehren später auch nicht mehr in diesen Beruf zurück. Wir werden uns dafür einsetzen, die Bezahlung für Erzieherinnen und Erzieher zu verbessern, damit möglichst viele dieser Personen später wieder in ihrem erlernten Beruf arbeiten.
Hierfür haben wir einen „Plan für einen beschleunigten Abbau der Wartelisten bei der Kinderbetreuung“ vorbereitet. Der Start für dieses neue System zur Unterstützung von Kindern und der Kindererziehung war ursprünglich in zwei Jahren vorgesehen. Allerdings ist die Situation so dringend, dass wir keine Zeit haben, länger zu warten.
Daher werden wir diesen Plan noch in diesem Jahr umsetzen, also sofort.
In den beiden Haushaltsjahren 2013 und 2014 werden wir 200.000 neue Betreuungsplätze schaffen. Und bis zum Jahr 2017, wenn die Nachfrage nach Kinderbetreuung ihren Höhepunkt erreichen wird, sind 400.000 Plätze geplant. Damit verfolgen wir das Ziel, die Plätze auf den Wartelisten bis zu diesem Zeitpunkt auf null zurückgeführt zu haben.
Um dieses Ziel zu verwirklichen, müssen sich auch die Kommunen als Träger der Kinderbetreuung mit ganzer Kraft hierfür einsetzen. Die Regierung wird dafür alles in ihrer Macht Stehende unternehmen und ambitionierte Kommunen nach Kräften dabei unterstützen, die Wartelisten abzuschaffen.
Unterstützung der Rückkehr ins Berufsleben nach drei Jahren Kinderbetreuung
Fragt man Frauen, die aufgrund von Schwangerschaft und Geburt ihren alten Arbeitsplatz aufgegeben haben, nach dem Grund dafür, dann antworten viele nicht etwa, dass sich Beruf und Kinderbetreuung nur schwer miteinander in Einklang bringen lassen. Vielmehr lautet die häufigste Antwort: „Ich habe aus eigenem Entschluss gekündigt, um mich ganz auf Haushalt und Kinderbetreuung konzentrieren zu können.“ Es ist durchaus verständlich, dass es Mütter und Väter gibt, die sich nach der Geburt eines Kindes für eine bestimmte Zeit ganz auf die Kinderbetreuung konzentrieren möchten. Derzeit beträgt der Zeitraum, den das Gesetz über Erziehungs- und Pflegeurlaub für die Kinderbetreuung gewährt, grundsätzlich ein Jahr. Auch hier zeigt die Umfrage jedoch, dass sich rund sechzig Prozent der Befragten eine Beurlaubung von mehr als einem Jahr wünschen. Tatsächlich würden rund ein Drittel der Befragten gerne Erziehungsurlaub nehmen, bis das Kind etwa drei Jahre alt ist.
Wenn wir eine Gesellschaft anstreben, in der Frauen ihre Berufstätigkeit fortsetzen können, dann gewinnt auch die Beteiligung der Männer an der Kinderbetreuung ganz selbstverständlich eine wichtige Bedeutung. Auch diesen Bedürfnissen müssen wir Rechnung tragen. Daher werden wir sicherstellen, dass sich Männer und Frauen gemeinsam bis zum dritten Geburtstag ihres Kindes auf die Kinderbetreuung konzentrieren können, um anschließend wieder an ihre Arbeitsplätze zurückkehren zu können. Aus diesem Grund habe ich heute die drei führenden Wirtschaftsverbände gebeten, auf freiwilliger Basis und nicht in Form einer gesetzlichen Pflicht die Einführung eines „dreijährigen Erziehungsurlaubs“ zu fördern.
Wir beschränken uns jedoch nicht nur auf Bitten. Vielmehr wird die Regierung die Unternehmen, die einen „dreijährigen Erziehungsurlaub“ gewähren und damit die Möglichkeiten von Haushalten mit kleinen Kindern bis drei Jahre erheblich erweitern, mit einem neuen Zuschuss u.a. unterstützen.
Je länger die Abwesenheit vom Arbeitsplatz dauert, desto mehr machen sich die Arbeitnehmer Sorgen, ob sie in der Lage sein werden, ihre alte Arbeit wieder so zu bewältigen wie früher. Aus diesem Grund wird es für diese Arbeitnehmer ein neues Programm geben, das ihnen vor der Rückkehr in die Arbeitswelt eine „Auffrischung“ an einer Universität oder einer Fachschule ermöglicht. Auf diese Weise unterstützen wir die Mütter und Väter, die nach drei Jahren Kinderbetreuung an den Arbeitsplatz zurückkehren, in umfassender Weise.
Unterstützung bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz sowie bei der Gründung eines eigenen Unternehmens
Auch die Erfahrungen, die im Rahmen der Kinderbetreuung gemacht werden, sind wertvolle Erfahrungen. Ich bin sogar der Auffassung, dass die Kinderbetreuung an sich bereits als eine ganz besondere „Karriere“ Wertschätzung erhalten sollte.
Tatsächlich gibt es eine junge Frau, die aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen ein eigenes Unternehmen gegründet hat, das Kleidung entwirft und verkauft, die es Müttern erlaubt, auch in der Öffentlichkeit ihr Kind zu stillen. Mit dieser Idee hat das Unternehmen einen neuen Markt im Umfang von zwei Milliarden Yen erschlossen.
Frauen, die selbst ihr Kind betreut haben, gewinnen durch diese Erfahrung einen neuen Blickwinkel, der ihnen die Möglichkeit eröffnet, neue Produkte und Dienstleistungen zu entdecken. Ich bitte alle Eltern nachdrücklich, ihre gemachten Erfahrungen zum Nutzen der ganzen Gesellschaft einzubringen.
Hierfür werden wir nicht nur den Erziehungsurlaub ausweiten, sondern die Mütter und Väter, die ihren alten Arbeitsplatz verlassen und sich längere Zeit ganz auf die Kinderbetreuung konzentriert haben, dabei unterstützen, jederzeit wieder ins Berufsleben zurückkehren zu können. Die Eltern, die ihre Kinder über mehrere Jahre betreut haben, werden wir bei der Rückkehr in den Beruf unterstützen, indem wir für diese Zielgruppe neue Programme für Praktika und eine probeweise Anstellung einrichten. Für diejenigen, die die Erfahrung der Kinderbetreuung nutzen wollen, um ein eigenes Unternehmen zu gründen, werden wir Fördergelder bereitstellen, die für eine solche Gründung erforderlich sind. Wir möchten ein Japan schaffen, in dem sowohl die berufstätigen Frauen als auch die Frauen, die sich auf die Familie konzentrieren, stolz auf ihre eigene Lebensweise sein können, nämlich ein leuchtendes Japan.
7. Schluss
„Herausforderung“, „Entfaltung im Ausland“ sowie „Schöpfung“ – ich bin davon überzeugt, dass durch das Bündeln dieser bildlich gesprochen neuen „drei Pfeile“ unserer Wachstumsstrategie Japan erneut die Leiter zu mehr Wachstum emporsteigen wird.
Abschließen möchte ich diesen Vortrag mit einem weiteren Zitat von Dr. Osamu Shimomura, den ich bereits erwähnt habe. Es stammt aus dem Vorwort zu dem Aufsatz „Grundlegende Fragen der Wachstumspolitik“ aus dem Jahr 1960. Es stellt gleichsam seine nachdrückliche Botschaft an Japan dar, das sich damals anschickte, in eine Phase des hohen Wirtschaftswachstums einzutreten.
„Was in zehn Jahren unser Schicksal bestimmen wird, sind die Wahl, die wir heute treffen, sowie die Entschlossenheit, die uns jetzt innewohnt. Alles hängt von unseren schöpferischen Anstrengungen ab. Um dieses Potenzial zu erschließen und zu verwirklichen, dürfen wir uns nicht in rückwärtsgewandter und passiver Weise von dem Prinzip, nichts ändern zu wollen, leiten lassen; vielmehr müssen wir uns voller Eifer und in schöpferischer Weise große Stärke aneignen. Ich bin zutiefst von den schöpferischen Fähigkeiten der Menschen in Japan überzeugt. Es ist nun an der Zeit, voller Selbstvertrauen den Weg nach vorn zu beschreiten.“
Ich glaube an die Fähigkeiten der Menschen in Japan. Mit Hilfe der Kraft der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes wird die japanische Wirtschaft wieder ein hohes Wachstum verzeichnen. Mit dieser festen Überzeugung werde ich eine Wachstumsstrategie von einer „neuen Dimension“ erstellen und entschlossen umsetzen.
Vielen Dank.