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Neues aus Japan Nr.126 Mai 2015

Fasziniert von der Vermenschlichung von Tieren und Dingen

– Ein Charakteristikum von Manga und Anime

Die Tradition, Tiere oder Dinge mittels der Verleihung menschlicher Eigenschaften zu vermenschlichen, spielt bei der Entwicklung der Ästhetik von Manga und Anime in Japan eine wichtige Rolle. Heute zählt dieses Phänomen, für das es den Fachbegriff Anthropomorphismus gibt, zum festen Bestandteil der japanischen Kultur. Niedliche Figuren, die in einer vermenschlichenden Art und Weise gezeichnet werden, zählen zu den wesentlichen Elementen der Popkultur und nehmen auch in der Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen oder Regierungsbehörden eine wichtige Stellung ein.

 


Chôjû-giga („Bildrolle mit Possen treibenden Tieren“) aus der Sammlung des Tempels Kōzanji.
Das Foto wurde vom Kyōtō National Museum zur Verfügung gestellt.

 

Vermenschlichung – eines der Grundelemente der Manga- und Anime-Kultur

Die Tradition der Vermenschlichung reicht bis ins 12. Jahrhundert zurück, als Toba Sôjô in seinem Werk Chôjû-giga („Bildrolle mit Possen treibenden Tieren“) Hasen und Frösche in einer Art zeichnete, als seien sie Menschen. Diese Bildrolle zählt zu den Nationalschätzen des Landes, während sich die Tradition, Tieren und unbelebten Gegenständen menschliche Eigenschaften „anzuzeichnen“, bis heute erhalten hat.

Die beliebte Figur Astro Boy des Zeichners Osamu Tezuka ist das bekannteste Beispiel für eine ganze Reihe von Manga aus der Nachkriegszeit, bei denen Maschinen und Robotern individualistische menschliche Eigenschaften verliehen werden. Bekannte Beispiele wie Anpanman von Takashi Yanase zeigen, wie aus allen möglichen Materialien liebenswerte Wesen entstehen können. Anpanman ist ein rotwangiger Superheld mit einem großen runden Kopf, der einer beliebten Süßigkeit in Japan namens anpan nachempfunden ist – ein kleiner runder Kuchen, der mit süßem Bohnenmus gefüllt wird. Diese Manga-Serie vermenschlicht in genialer Weise die Vorliebe der Menschen in Japan für diese beliebte Speise als Verkörperung von Wärme, Freundlichkeit und Verlässlichkeit. Anpanman ist bis heute eine der Lieblingsfiguren von Millionen Kindern in Japan.

 


Anpanman ©Takashi Yanase/froebel-kan, TMS, NTV

 

Bahnlinien mit eigener Persönlichkeit

Heute ist der Hang zur Vermenschlichung von Tieren und Dingen in Japan ein allgegenwärtiges Phänomen. Manga-Figuren stellen heute alles Mögliche dar – von Städten und Gemeinschaften bis hin zu regionalen Wahrzeichen, Bahnlinien oder sogar Computersystemen. Diese Charaktere unterstützen die Menschen dabei, das Image eines Ortes oder eines Gegenstands mittels konkreter physischer Eigenschaften und einer passenden Persönlichkeit mit Leben zu füllen.

Ein populäres Genre mit dem Hang zur Vermenschlichung ist die einzigartige Eisenbahnkultur in Japan. Das Liniennetz in Tōkyō zählt zu den größten weltweit; es besteht aus Dutzenden von Linien und Hunderten von Bahnhöfen – die alle über eine eigene Persönlichkeit verfügen. In der beliebten Manga-Serie Aoharu Tetsudō wird diesem weitläufigen Bahnnetz dadurch Leben eingehaucht, indem die unterschiedlichen Bahnlinien durch junge Manga-Figuren verkörpert werden, in deren Kleidung und Persönlichkeit sich ihr Ruf unter den Fahrgästen widerspiegelt. Diese Serie verwandelt quietschende Züge und gerade Striche auf einem Streckenplan in lebendige Figuren mit individuellen Stärken und Schwächen. Der humorvolle Comic bringt die Gefühle und die Zuneigung der Passagiere des weltweit effizientesten Transportsystems zum Ausdruck, bilden doch die Bahnlinien und Züge einen wichtigen Bestandteil im Alltagsleben der Bewohner Tōkyōs.


Der Manga Miracle Train geht sogar noch einen Schritt weiter. Ursprünglich war er Bestandteil einer Werbekampagne zur Feier des zehnjährigen Bestehens der U-Bahnlinie Ōedo in Tōkyō. In diesem Manga werden die einzelnen Stationen als junge Männer gezeichnet, deren Vorlieben und Persönlichkeiten die Gegenden widerspiegeln, in denen sie liegen. Im geschichtsträchtigen Viertel Ryōgoku steht beispielsweise die bekannteste Sumō-Arena Japans; zugleich findet dort jeden Sommer das größte Feuerwerk des Landes statt. Folglich wird diese U-Bahnstation als sportlicher junger Mann gezeichnet, der eine Vorliebe für historische Romane, Feuerwerk und die chanko Eintopfgerichte hat, die traditionell auf den Speiseplänen der Sumō-Ringer stehen.

 

Was kommt als Nächstes?

Keisuke Fujikawa, Gastdozent an der Kyoto Saga University of Arts und ein Experte der Geschichte von Manga und Anime in Japan, vertritt die Ansicht, dass die Entwicklung von Manga und Anime zu ihren Wurzeln zurückkehrt. „Es begann mit einfachen Vermenschlichungen und wandte sich dann menschlichen Dramen zu, bei denen der Fokus auf der erzählten Geschichte lag“, so Fujikawa. „Heute weist der Trend wieder in die andere Richtung, nämlich hin zu einer Vermenschlichung und einer Betonung der auftretenden Figuren. Dies könnte der Beginn einer völlig neuen Generation von Manga und Anime sein. Ich bin wirklich gespannt!“

Japans Tradition der Vermenschlichung von Dingen verwandelt auf geniale Weise leblose Objekte in Charaktere, die den Lesern in Erinnerung bleiben. Damit unterstützen sie die Kommunikation zwischen Organisationen und der Öffentlichkeit und spielen so eine kleine aber wichtige Rolle dabei, die japanische Gesellschaft so sicher, bunt und kreativ zu machen, wie sie sich heutzutage präsentiert.

 

    
Links: Nekodarake ©Kimuchi Yokoyama/Kodansha
Mitte: Aoharu Tetsudō ©Aoharu/Mediafactory
Rechts: Tetsujin 28-go ©Hikari Production

 

 

© Web Japan 2015

 


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