
Grundsatzrede von Premierminister Shinzo Abe beim „The Economist Japan Summit 2015“
in Tokyo,
am 09.07.2015
Foto: Cabinet Public Relations Office
Einleitung
Verehrte Dominic Ziegler, Anton LaGuardia, Andrew Staples, Chris Clague,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
es ist mir eine große Ehre, auch in diesem Jahr wieder zu Ihnen sprechen zu dürfen.
Seit dem letzten Mal ist eine ganze Reihe von Dingen geschehen.
Ende vergangenen Jahres entschied ich mich dazu, ganz unvermittelt Wahlen auszurufen, um die Wählerinnen und Wähler auf diese Weise um ihre Unterstützung für die Abenomics zu bitten. Vor einem Jahr hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, dass dies passieren würde.
Unserer Regierungskoalition gelang es bei dieser Wahl erneut, eine beträchtliche Anzahl von Mandaten – mehr als zwei Drittel – im Unterhaus zu erringen. Daher schätze ich mich glücklich, heute zu Ihnen als amtierender Premierminister sprechen zu können – und nicht als früherer.
Meine Politik der Abenomics hat ein eindeutiges Mandat von Seiten der Wählerinnen und Wähler erhalten, und dies ist für mich in hohem Maße hilfreich.
Umsetzung der Reformen
Ich werde meine Wachstumsstrategie in noch größerem Tempo vorantreiben. Die Regulierungen, Systeme und Gewohnheiten, die wie hartes Felsgestein erscheinen und die Japans Wachstum seit vielen Jahren behindern, werde ich auf diese Weise durchbrechen.
Seitdem ich die aktuelle Parlamentssitzung als „Sitzung zur Umsetzung von Reformen“ bezeichnete, haben wir eine Vielzahl von Gesetzentwürfen vorgelegt, um genau dies zu tun.
Nun, ich sehe, dass einige von Ihnen etwas überrascht blicken. Sie mögen vielleicht denken, dass man sich in Japan derzeit nicht mit der Wirtschaft, sondern vor allem mit der Debatte über die nationale Sicherheit befasst. Ich begrüße Ihr kontinuierliches Interesse für Japan und danke Ihnen dafür, dass Sie die Berichterstattung der japanischen Medien so aufmerksam verfolgen.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, einmal mehr bewahrheitet sich der Spruch: „Keine Nachrichten sind gute Nachrichten.“
Werfen Sie einen Blick auf die Nettogewinne der an der Tokyoter Börse notierten Unternehmen. Zum ersten Mal in der Geschichte haben diese Gewinne die Marke von 20 Billionen Yen überschritten – das sind 163 Mrd. US-Dollar.
Die Zahl der offenen Stellen pro Arbeitssuchendem liegt auf dem höchsten Stand seit 23 Jahren; und wie bereits im Vorjahr sind auch in diesem Frühjahr die Löhne und Gehälter in Japan um mehr als zwei Prozent gestiegen.
Im letzten Jahr gab es einen Einbruch bei der Wirtschaft, der mit der Anhebung der Verbrauchssteuer um drei Prozent zusammenhing. Ich weiß, dass einige der hier Anwesenden damals ziemlich besorgt waren. Wenn Sie sich das Bild heute anschauen, dann gestalten sich die Unternehmensgewinne ausgesprochen positiv. Diese Gewinne werden in der Art eines Kreislaufs wieder in neue Arbeitsplätze sowie in steigende Löhne und Gehälter investiert. Nennen Sie es ruhig einen veritablen Wirtschaftskreislauf, der hier in Gang gekommen ist. Derzeit wächst die Wirtschaft – umgerechnet auf das ganze Jahr – um neun Prozent.
Das Haushaltsjahr 2014 erlebte zudem Rekordsteuereinnahmen in Höhe von 54 Billionen Yen, der höchste Wert seit 21 Jahren; das waren etwa vier Billionen Yen mehr als unsere Prognose für die Haushaltsplanung. Und im Haushaltsjahr 2015 sind wir erneut in der Lage, ein Haushaltsziel aufzustellen, mit dem wir unser Primärdefizit halbieren können. Letzten Monat haben wir zudem einen konkreten Plan erstellt, um in den kommenden fünf Jahren die haushaltspolitische Konsolidierung Japans zu erreichen.
Sie sehen, unsere Wirtschaftspolitik ist nicht länger Gegenstand kontroverser Debatten. Daher verwundert es nicht, dass die Opposition aufgehört hat, über die Abenomics zu reden. Denn je mehr sie darüber diskutierte, desto mehr musste sie die verbesserten Zahlen und Werte anerkennen. Tatsächlich agierte die Opposition in den Parlamentsdebatten zur Wirtschaftspolitik eher schwach.
Zu den bereits verabschiedeten und umgesetzten Gesetzen gehört auch das Gesetz über die Reform der Energiemärkte, das die Märkte für Strom und Gas liberalisiert, die in den letzten sechzig Jahren starke Bastionen eines Oligopolismus waren. Auch unser System der Krankenversicherungen wird infolge eines vom Parlament verabschiedeten Gesetzes nun reformiert werden. Ebenfalls zum ersten Mal seit sechzig Jahren werden die Nôkyô, die landwirtschaftlichen Genossenschaften, Gegenstand von Reformen sein, weil das entsprechende Gesetz vom Unterhaus bereits verabschiedet wurde und derzeit im Oberhaus beraten wird.
Vor zweieinhalb Jahren waren die „drei Pfeile“ der Abenomics, die ich abgeschossen hatte, Gegenstand heftiger Kontroversen im Parlament. In den Medien wurde rund um die Uhr über diese Maßnahmen diskutiert. Zweimal schaffte ich es auf das Titelbild von The Economist, übrigens ebenso oft wie Clark Kent. In jüngster Zeit ist mir dies bedauerlicherweise nicht mehr gelungen. Keine Nachrichten sind eben gute Nachrichten. Die Abenomics nehmen weiter Fahrt auf, und es ist genau dies, was ich Ihnen heute vor Augen führen möchte.
Die Wachstumsstrategie
Seit letztem Monat haben sich mehr als zweitausend börsennotierte Unternehmen in Japan zur Einhaltung des Corporate Governance Kodex verpflichtet; und in den vergangenen zwei Jahren hat sich die Zahl der Unternehmen, die unabhängige Non-Executive-Direktoren ernannt hat, in etwa verdoppelt. Mit Blick auf den Stewardship Kodex, den wir aus Großbritannien eingeführt haben, haben sich bislang 191 institutionelle Investoren zu dessen Einhaltung verpflichtet.
Es ist nun an uns, die Corporate Governance weiter zu stärken und die Mentalität der japanischen Manager zu verändern, denen es nun nicht länger erlaubt ist, an einem Managementstil festzuhalten, der den Blick vor allem nach innen richtet oder Risiken scheut. Eine neue Mentalität soll die Menschen in Japan dazu ermutigen, den Blick über ihr eigenes Land hinaus auf die sehr viel größere Welt zu richten und nun entschlossen Kurs zu setzen auf die rauen Gewässer des internationalen Wettbewerbs. Dies fasst im Grunde meine eigenen Überzeugungen zusammen, die die Basis für meine Wachstumsstrategie bilden.
Während der letzten zweieinhalb Jahre hat die Zahl der Beschäftigten in Japan um eine Million zugenommen, und ich freue mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass 900.000 davon Frauen sind.
Mittlerweile hat sich die Zahl der Frauen in den Aufsichtsräten der börsennotierten Unternehmen gegenüber früher versechsfacht. Ohne Frauen und tatsächlich auch ohne nicht-japanische Arbeitskräfte können wir nicht länger auf der internationalen Bühne bestehen. Es ist zudem notwendig, eine größere Vielfalt an Arbeitsstilen einzuführen, die mehr Flexibilität ermöglichen und unsere Arbeitsproduktivität verbessern wird. Wir sollten zudem rigoros Informations- und Kommunikationstechnologien, Roboter und andere innovative Technologien nutzen.
Komatsu, der zweitgrößte Produzent von Erdbaumaschinen weltweit, ist dafür ein gutes Beispiel. Ich hatte die Gelegenheit, vor kurzem die neueste Fabrik dieses Unternehmens zu besichtigen und erfuhr dabei, dass die Stromkosten für diese Anlage in den letzten fünf Jahren durch den Einsatz neuester Spitzentechnologien um neunzig Prozent reduziert werden konnten. Diese Fabrik wird früher oder später das Ziel des Netto-Null-Energieverbrauchs erreichen.
Wir leben heute in einer Ära, in der Roboter andere Roboter herstellen. Wenn Sie sich das ansehen möchten, brauchen Sie nur in die Fabrik von Fanuc zu gehen, dem weltweit führenden Unternehmen für Industrieroboter, wo Sie kaum noch einen menschlichen Arbeiter sehen werden.
Bitte rufen Sie sich in Erinnerung, dass ein Schlüsselkonzept für die Gestaltung unserer Zukunft im Rahmen meiner Wachstumsstrategie die Revolution im Bereich der Produktivität ist. In diesem Frühjahr habe ich während meines USA-Besuchs das MIT und Silicon Valley besucht. Ich habe dort getönte Fensterscheiben gesehen, die Strom erzeugen, und ich habe die neuesten Entwicklungen im Bereich des Social Networking kennengelernt. Big Data und künstliche Intelligenz ermöglichen immer neue Wirtschaftsaktivitäten. Kurz gesagt: Ich lernte eine Vielzahl von visionären Ideen kennen, die sich in atemberaubendem Tempo entwickeln und mich einfach nur staunen ließen. Dieser Besuch hat mich davon überzeugt, dass auch unser Land das Tempo weiter steigern und mit diesen Entwicklungen mithalten muss, um auch weiterhin nachhaltiges Wachstum für Japan zu sichern.
Es trifft zudem zu, dass es auch in Japan eine Reihe von kleinen und mittleren Unternehmen gibt, die mit ihren Ideen und Technologien brillieren. Ebenfalls ist es eine Tatsache, dass es gerade diese Unternehmen sind, die über viele Jahre hinweg Japans Fähigkeiten im Bereich der Güterherstellung unterstützt haben. Meine Hoffnung ist nun, dass es diesen Unternehmen nicht genügt, nur Landesmeister zu sein, sondern dass sie ihren unternehmerischen Elan in einem noch größeren Rahmen unter Beweis stellen. Wir haben daher ein neues Projekt auf den Weg gebracht, bei dem wir über einen Zeitraum von fünf Jahren hinweg 200 Unternehmen auswählen und nach Silicon Valley entsenden werden. Indem sie im unmittelbaren Wettbewerb mit einigen der weltweit führenden Unternehmen stehen, sollen sie danach streben, Weltmeister zu werden.
Schaffen eines günstigen Investitionsklimas
Ich werde mich zudem dafür einsetzen, dass mehr und mehr weltweit führende Unternehmen nach Japan kommen und sich hier niederlassen. Ich bin davon überzeugt, dass sie erstens neue Arbeitsplätze schaffen und dann – was noch wichtiger ist – als hervorragende Stimuli für japanische Unternehmen fungieren werden.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass multinationale Unternehmen auf die Frage nach dem Ziel ihrer Auslandsinvestitionen durchweg China als Antwort gaben. Einige Umfragen aus jüngster Zeit zeigen allerdings, dass es nun wieder Japan ist, das vor allen anderen Ländern als Ziel für F&E-Investitionen in Frage kommt. Im Frühjahr nächsten Jahres wird das Apple Logo in Yokohama enthüllt werden, wo der iPhone-Hersteller sein erstes F&E-Zentrum in Asien eröffnen wird.
Seit ich im Dezember 2012 das Amt des Premierministers übernommen habe, hat sich der Umfang der ausländischen Direktinvestitionen in Japan gegenüber dem früheren Niveau mehr als verzehnfacht. Trotzdem ist dies bei weitem noch nicht ausreichend.
Wenn Sie den Blick auf die von uns eingeführten Sondergenehmigungen für Unternehmen in Bezug auf Felderprobungen, die Nationalen strategischen Sonderzonen oder andere Regulierungsreformen richten, dann erkennen Sie, dass die Instrumente für Sie bereit liegen, um sie auszuprobieren und anzuwenden. Sollten irgendwelche institutionellen Hemmnisse bestehen, werden wir diese sämtlich aus dem Weg räumen. Darüber hinaus wurde nun ein Staatsminister ernannt, der als gewählter Volksvertreter politisch legitimiert ist, Ihren Anregungen aufmerksam zuzuhören und rasche Hilfe bei der Lösung von Fragen anzubieten, die Ihre Unternehmen betreffen. Sie können daher ganz beruhigt sein. Es ist nun wichtig, Japan in ein Investitionsziel zu verwandeln, das jeder – unabhängig von der Staatsangehörigkeit, attraktiv findet. Japan muss alle anderen Länder als wirtschaftsfreundlichstes Land übertreffen. Ansonsten können wir selbst von den japanischen Unternehmen kein Wachstum bei den Investitionen erwarten, da der Wettbewerb auf globaler Ebene weiter an Schärfe zunimmt.
Zu diesem Zweck haben wir auch den effektiven Satz der Unternehmenssteuer im letzten April um 2,5 Prozentpunkte gesenkt. Es ist unser Ziel, im April nächsten Jahres den Unternehmenssteuersatz um mindestens weitere 3,3 Prozentpunkte zu senken, wenn möglich sogar noch darüber hinaus – alles gemessen am Steuersatz, der bis Ende März dieses Jahres galt. Wir werden uns weiterhin für eine Reform der Unternehmenssteuer einsetzen, um den effektiven Steuersatz im Laufe mehrerer Jahre bis auf den 20-Prozent-Bereich abzusenken und damit auf ein Niveau, das den internationalen Vergleich nicht zu scheuen braucht.
Ergreifen von Schritten außerhalb Japans
Darüber hinaus wird Japan die Tür in die Welt weit aufstoßen. Wir sind entschlossen, unser Land in das Zentrum einer freien und fairen Wirtschaftszone voller Dynamik für die ganze Welt zu verwandeln.
In Bezug auf die Verhandlungen über die Trans-Pacific Partnership (TPP) befinden sich diese nun mit der Verabschiedung des Gesetzes über die Trade Promotion Authority durch den US-Kongress auf der Zielgeraden. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es bei allen Verhandlungen stets die letzten Meter sind, die die größte Herausforderung darstellen. Nichtsdestoweniger obliegt es der gemeinsamen Führungsstärke Japans und der Vereinigten Staaten, die Verhandlungen möglichst rasch zu einem Abschluss zu bringen.
Mit Blick auf die Verhandlungen über das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) zwischen Japan und der EU haben beide Seiten vereinbart, den Prozess zu beschleunigen und eine Einigung bis Ende dieses Jahres zu erreichen. Japan ist zudem fest entschlossen, eine wichtige Rolle für den raschen Abschluss des Abkommens über die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP) zu spielen.
Angesichts der weiter voranschreitenden Globalisierung und der Zunahme der Interdependenzen ist es für die einzelnen Staaten heute mehr denn je notwendig, in enger Weise Hand in Hand zusammenzuwirken, um die Stabilität der Weltwirtschaft und der Finanzsysteme zu verbessern. Japan wird auch weiterhin alles in seinen Kräften Stehende unternehmen, um sowohl die Kooperation mit den anderen Mitgliedern der G7 als auch die Zusammenarbeit mit den asiatischen Ländern auszuweiten.
In Bezug auf die jüngsten Entwicklungen in Griechenland werden wir in enger Weise im Rahmen der G7 zusammenwirken. Dasselbe gilt für die Stabilisierung des Euro-Raums, wo wir Fortschritte bei den Beratungen zwischen den Verhandlungspartnern sehen.
Es ist nicht der Staat, sondern es sind die Unternehmen, die Wachstum erzeugen. Märkte, in denen die Bösen die Guten vertreiben und in denen Fälschungen und Produktpiraterie die technologisch fortschrittlichen Produkte an den Rand drängen, werden niemals Innovationen hervorbringen. Der freie Wettbewerb innerhalb des privaten Sektors vollzieht sich im Rahmen legitimer Wirtschaftsmechanismen, die bessere Produkte und Dienstleistungen angemessen bewerten. Nur so können wir erwarten, dass nachhaltiges Wachstum entsteht. Japan wird seine Führungsstärke unter Beweis stellen, indem wir einen fairen und nachhaltigen Markt schaffen, der nicht von den jeweiligen Erwartungen der einzelnen Staaten beherrscht wird.
Schlussbetrachtung
Fair Play bis zum Ende – die „Nadeshiko Japan“, die japanische Fußballnationalmannschaft der Frauen, hat bei der Fußball-WM alles gegeben. Die weltbekannte Publikation The Economist stammt aus England, dem Geburtsland des modernen Fußballs. Und die Nadeshiko erreichten das Finale der WM nur deshalb, weil das starke englische Team dies zuließ. Leider konnte Japan die Chance diesmal nicht nutzen. Aber selbst, als sie im Finale vier Tore zurücklagen, haben sich die japanischen Spielerinnen nicht aufgegeben und noch zwei Treffer erzielt. Dieser Anblick unserer Spielerinnen, die bis zum Schlusspfiff unermüdlich auf ihre Chance hofften, war für alle Menschen in Japan eine ungeheure Inspiration. Es hat mich sehr beeindruckt, was die Fußballlegende Homare Sawa nach dem Spiel sagte: „Ich habe alles gegeben, was ich hatte. Ich bedaure nichts.“ Diese Einstellung hat mir ebenfalls Mut gemacht. Auf der Weltbühne zu agieren, ist sicherlich keine einfache Aufgabe, und ich bin wirklich sehr stolz auf die 23 Spielerinnen von Nadeshiko Japan, die dies auf so wunderbare Weise in die Praxis umgesetzt und einen hervorragenden zweiten Platz erreicht haben.
Auch die japanische Wirtschaft birgt nach wie vor großes Potential. Davon bin ich fest überzeugt. Die Frage ist nun, ob es uns gelingt, unser Bestes ohne Bedauern zu geben. Fair Play bis zum Ende. Niemals aufgeben, bis der Schlusspfiff ertönt. Auch ich bin fest entschlossen, mich mit ganzer Kraft für die Umsetzung der Wachstumsstrategie einzusetzen, damit auch ich sagen kann: „Ich habe alles gegeben, was ich hatte. Ich bedaure nichts.“
Vielen Dank.