Botschaft von Japan

Kultur

Interview mit dem Edo Daikagura-Künstler Senmaru

„Ich balanciere und jongliere mit den unterschiedlichsten Gegenständen!“ Neues aus Japan hat für diese Ausgabe den Edo Daikagura-Künstler Senmaru interviewt, der seit dem Sommer im Wintergarten Berlin im Rahmen der Show „SAYONARA TOKYO“ auftritt, die noch bis Ende Februar 2018 läuft.

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Bild: Senmaru bei einer Vorführung (Foto: Senmaru)

Edo Daikagura ist eine Variante der als Kagura bekannten traditionellen Unterhaltungskünste, die in ihrer jetzigen Form bis in die Edo-Zeit (1603-1868) zurückreicht und sich bis heute großer Beliebtheit erfreut. Die Ursprünge dieser Kunst gehen u.a. auf Löwentänze zurück, die von Wanderpriestern zur Austreibung von Dämonen aufgeführt wurden. Neben diesen Tänzen kamen im Laufe der Zeit weitere Künste wie Balancieren und Jonglieren dazu.

Neues aus Japan: Herr Senmaru, Sie waren ein vielversprechender Student, der an der Universität Gartenbau studierte. Wie sind Sie dann zur Kunst des Edo Daikagura gekommen?

Senmaru: Man sollte lieber fragen, wieso ich eigentlich zum Gartenbau gekommen bin. Als ich 1987 studieren wollte, gab es diesen Biotechnologie-Boom. Eigentlich war ich gar nicht so sehr an Gartenbau interessiert; ich wollte einfach raus aus meiner Heimatregion, der Präfektur Yamaguchi, und nach Tokyo auf eine Uni dort. Zudem wollte ich auf eine staatliche Universität. Also habe ich eine Fakultät gesucht, deren Aufnahmebedingungen nicht zu schwierig waren; schließlich stieß ich auf die Fakultät für Gartenbau der Chiba University, für die meine akademischen Leistungen ausreichten. Weil ich aber kein echtes Interesse an diesem Fach hatte, habe ich mich lieber mit dem Theater beschäftigt – das hat mich schon immer fasziniert. Ich bin dann gar nicht mehr zum Unterricht gegangen, sondern war die ganze Zeit in Theater-AGs aktiv und habe alles andere vergessen. Schließlich gab ich das Studium auf und wollte beruflich unbedingt etwas mit Theater machen. Aber Schauspieler oder so etwas in der Richtung zu werden, war gar nicht so einfach. Nachdem ich also mit 22 das Studium aufgegeben hatte, habe ich, bis ich 26, 27 Jahre alt war, mehr oder weniger herumgetrödelt. Als ich dann 28 wurde, dachte ich mir: „Jetzt bist du schon fast dreißig, nun musst du dir irgendetwas Richtiges suchen.“ Ich habe mich dann bei einer Reihe von Theaterensembles beworben. Dann gab es diese Annonce, dass ein Ensemble eine Show vorbereitet, die traditionelle japanische Künste zum Thema hat und damit auf Tournee ins Ausland gehen wollte. Die haben mich schließlich genommen. Im Rahmen des Bühnenprogramms sollten in neunzig Minuten Japans traditionelle Künste in einer Art Überblick präsentiert werden. Damit sollte es dann für ein halbes Jahr durch Deutschland gehen. Damals hatte ich überhaupt keine Ahnung z.B. vom Trommelspielen, vom Tanzen, geschweige denn vom traditionellen japanischen Tanz. Ich hatte daher angenommen, dass ich immer in Nebenrollen unter „Sonstiges“ oder „Komparsen“ eingesetzt werden würde. Der Regisseur aber sagte uns blutigen Laien, er werde uns von Mai, als wir engagiert wurden, bis zum Start der Tournee in Deutschland im September alles Nötige beibringen lassen. In meinem Fall war dies das Balancieren und Jonglieren. Ehrlich gesagt war ich eigentlich nicht besonders geschickt in solchen Dingen und dachte auch nicht, dass ich das lernen könnte. Ich war also ein Amateur, aber mein Lehrer war ein echter Profi. Er wurde dann später auch mein Meister. Es wurde eine ganze Etage in einem Speichergebäude in Harumi direkt in der Bucht von Tokyo gemietet und dort probten wir fünf Tage die Woche, von Montag bis Freitag jeweils von 9 Uhr morgens bis 5 Uhr abends. In etwa drei Monaten habe ich dann die Anfänge der Künste der Balance-Jonglage erlernt. Nach sechs Monaten ging es dann los: nach Deutschland, dazu kamen noch Wien und Zürich. Leider war der Erfolg der Tournee nicht so berauschend. Ich hatte gehört, dass wir nach den sechs Monaten in Deutschland nach Japan zurückkehren, dort ein neues Programm proben und dann wieder nach Deutschland kommen sollten. Das sollte sich zehn Jahre lang wiederholen. Ich hatte mich daher schon richtig gefreut: „Toll! Jetzt hast für zehn Jahre einen Job.“ Weil aber die ersten sechs Monate nicht so erfolgreich waren wie erhofft, wurde das ganze Projekt eingestampft. Ich hatte meine Wohnung und alles aufgegeben, und so fragte ich mich nun, was aus mir werden solle. Mein Lehrer schlug dann vor: „Du hast jetzt schon so viel gelernt, wie wäre es, wenn du damit weitermachst?“ Das habe ich dann auch getan, und so habe ich schließlich Edo Kagura zu meinem Beruf gemacht. Damals konnte ich mir allerdings überhaupt nicht vorstellen, dass ich auch zehn oder zwanzig Jahre später immer noch dabei sein würde. Im Juli 1998 bin ich von dieser Tournee in Deutschland zurückgekehrt, und seitdem sind bereits neunzehn Jahre vergangen!

Neues aus Japan: Daikagura war ursprünglich eine Art religiöse Zeremonie. Gibt es da noch Bezüge oder denkt man manchmal noch daran?

Senmaru: Heute steht bei Daikagura das Balancieren und Jonglieren im Vordergrund, früher dagegen waren die Löwentänze (siehe Anmerkung unten) der Hauptbestandteil. Diese Tänze dienten dem Austreiben von Dämonen und die Kunststücke waren bloß eine Art Zugabe. Deshalb führen wir selbstverständlich noch Löwentänze auf. Dabei spüren wir schon, dass dort eine Art von religiöser Nuance mitschwingt, aber es ist ja nicht so, dass wir ein religiöses Ritual durchführen. Was die Kunststücke angeht, so ist das reine Unterhaltungskunst. Gerade im Ausland ist es schwierig, diesen Hintergrund richtig zu vermitteln. Wenn man in Japan die Kunststücke zeigt, dann kann man z.B. durch Wortspielereien diese Nuance des Segnens zum Ausdruck bringen. Im Ausland ist das eher schwer und deshalb sehe ich persönlich das bis heute als Unterhaltungskunst.

Anmerkung: Löwentänze sind eine Form der traditionellen Künste, bei denen die Masken tragenden Tänzer zur Musik einer kleinen Kapelle tanzen. Mit diesen Tänzen wird um eine gute Ernte gebeten bzw. werden Dämonen ausgetrieben. Seit einigen Jahren geht man wieder vermehrt dazu über, diese Tänze zu besonderen Anlässen, Festen oder zum Neujahr aufzuführen.

Neues aus Japan: Neben Japan sind Sie bereits in mehr als dreißig verschiedenen Ländern aufgetreten. Ist die Reaktion der Zuschauer je nach Land unterschiedlich?

Senmaru: Ja, da gibt es sehr wohl Unterschiede. In dem Sinne ist sogar Japan vielleicht am schwierigsten. Denn dort müssen wir grundsätzlich mit einer Art Handicap starten. Wenn wir im Kimono auftreten, dann denken die Zuschauer zunächst bloß: „Jetzt kommt was Altmodisches und Langweiliges.“ Im Gegensatz zu diesem Handicap ist es im Ausland – abgesehen von Asien – so, dass die Leute eine freudige Erwartung haben, wenn sie uns im Kimono mit all den typisch japanischen Requisiten sehen. Das ist grundsätzlich ein Vorteil. Von daher sind Aufführungen im Ausland sehr viel einfacher für uns.

Neues aus Japan: Sie gehen oft auf Tournee ins Ausland. Was ist der Antrieb dafür?

Senmaru: Da gibt es ganz verschiedene Gründe. Unser künstlerisches Genre ist recht klein und doch muss jeder selbst sein Auskommen suchen. Ich denke, in Tokyo gibt es so etwa dreißig Kagura-Artisten, und wenn man dann z.B. ein Engagement sucht, ist es meiner Meinung nach manchmal sogar einfacher, ins Ausland zu gehen und dort sein Auskommen zu finden. Das ist eigentlich dasselbe, wie wenn ein Sushi-Koch sein Restaurant lieber in Berlin eröffnet als auf der Ginza in Tokyo, weil er damit mehr Erfolg hat. Das mag sich jetzt erst einmal sehr businessmäßig anhören, aber darüber hinaus gibt es natürlich auch den Drang, eine ganz typisch japanische Unterhaltungskunst weltweit bekannt zu machen und Menschen überall auf der Welt Freude zu bereiten. Ich möchte, dass noch mehr Menschen diese Kunst kennenlernen und dass diese Form der Unterhaltung überall auf der Welt verstanden wird.

Neues aus Japan: Was ist für Sie persönlich der besondere Reiz von Daikagura?

Senmaru: Wie ich eben schon sagte, habe ich erst recht spät begonnen, meine Ausbildung bei meinem Meister zu beginnen – nämlich mit 29 Jahren. Da hatte ich gar nicht mehr so viele andere Möglichkeiten, mit Daikagura aufzuhören und etwas Neues zu lernen. Ich dachte mir eben: „Jetzt bleibt halt nur noch Daikagura und sonst nichts!“ (lacht) … Naja, das ist jetzt vielleicht nicht sehr geschickt ausgedrückt. Meiner Meinung nach ist in Daikagura eben all das Gute, das Japan bietet, vollständig enthalten.

Neues aus Japan: Was planen Sie für die Zukunft? Welche Träume haben Sie?

Senmaru: Ich habe einen ganz großen Traum: Ich möchte ein Varieté-Theater, wie es sie in Deutschland gibt, auch in Japan gründen. Zwar gibt es in Japan Engeijo genannte Bühnen, die so eine Art Varieté darstellen, aber das ist doch etwas anderes. Bei diesen Bühnen kommt es vor allem darauf an, sich dem Publikum und den anderen Künstlern zu präsentieren. Das ist eher eine Art Schaufenster für die Künstler. Die Honorare, die man dort erhält, sind wirklich niedrig und von dem bisschen Geld kann man nicht leben. Mein Traum ist es, ein richtiges kommerzielles Theater wie hierzulande zu errichten, wo eine japanische Version des deutschen Varietés gezeigt wird.

Darüber hinaus möchte ich noch Orte besuchen, wo ich bisher noch nicht war. Den Südpol zum Beispiel (lacht), etwa eine Aufführung für die Forscher, die dort in der Antarktis überwintern (lacht).

Neues aus Japan: Welche Bitte möchten Sie an die Leserinnen und Leser unseres Magazins richten?

Senmaru: Unsere Show im Wintergarten läuft noch bis Ende Februar 2018 und ich möchte sie bitten, sich diese Show einmal anzuschauen. Darin wird zwar nicht das wirkliche Japan gezeigt, aber es wäre schön, wenn Ihre Leser durch das Bühnenprogramm ihr Interesse für Japan entdecken und mein Land einmal besuchen könnten.

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Bilder: Aus der Show „SAYONARA TOKYO“ (Fotos: Wintergarten Berlin)

Nähere Informationen zur Show „SAYONARA TOKYO“ im Wintergarten Berlin finden Sie hier: Wintergarten Berlin