Botschaft von Japan

Kultur

„Nur eine kleine Maulbeere, aber sie wog schwer“ – Die Gedichte der Kaiserin Michiko – ein Vortrag von Prof. Dr. Peter Pantzer

Vortrag von Prof. em. Dr. Peter Pantzer in der Botschaft von Japan am 16. 01. 2018

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Bild: Prof. Pantzer während seines Vortrags (Foto: Botschaft von Japan)

Jeder erinnert sich, als Schüler im Deutschunterricht Gedichte gelernt und aufgesagt zu haben. Der Reim half, sich manches Gedicht zu merken. Ob es eine unbemerkte Einführung in die Poesie war, weiß ich nicht. Jedenfalls blieben uns Namen von Dichtern oder Dichterinnen in Erinnerung, von denen wir später erfuhren, dass sie für die Literatur Großes geleistet hatten. Aber nie hatten wir daran gedacht, dass auch Kaiserinnen und Kaiser dichteten. In Japan war und ist dies anders. Und welche Rolle die Poesie in manchen Kreisen spielte, hatte ich – mit einem Stipendium für zwei Jahre in der Tasche – schon bald nach meiner Ankunft als Student in Japan erleben dürfen.

Erste Berührung mit japanischer Poesie

Die Nichte des bekannten Schriftstellers Tanizaki Jun’ichiro (1886-1965) hatte mich in das Haus des Holzschnittmeisters Hando Yoshihide zu einer Gedichtrunde eingeladen. Es war im Herbst 1969. Ich hatte wenige Vorkenntnisse über ein solches Treffen und folgte bescheiden. Zwei Wochen vorher wurde, wie ich erfuhr, ein bestimmtes Thema ausgegeben. Jeder Teilnehmer der Runde musste zu diesem Motiv ein oder zwei Gedichte zeitgerecht einschicken. Verteilt wurden dann die Gedichte an alle Gäste ohne Namensnennung. Niemand wusste, wer welches Gedicht geschrieben hat. Nur der Hausherr. Dann wurde erörtert, welches Gedicht das schönste war. Die Diskussion war also ohne Vorurteile. Und erst, wenn das schönste Gedicht in der Runde bestimmt war, dann wurde der Name genannt, wer das Gedicht verfasst hatte.

Es war ein wunderschöner Herbsttag. Wir saßen auf Tatami. Blick in den Garten. Was ich bei diesem Treffen noch mitbekommen habe war, dass in den Gedichten oft die Frucht Kaki (Persimone) aufgenommen wurde, die in dieser Jahreszeit reif wurde. Es ist diese schöne, orangefarbene Frucht, die immer noch am Baum hängt, wenn sich die Blätter verfärben und zu Boden sinken. Was ich damals noch nicht so richtig begriffen hatte war, dass auch das Einfache und wenig ins Auge fallende Dinge in die Poesie miteingebunden wurden.

Was ist ein Kurzgedicht, was ist ein Haiku?

Wenn wir von japanischen Gedichten sprechen, so weiß fast jeder, der sich irgendwie für Japan interessiert, den Begriff „Haiku“ zu nennen. Ein kürzeres Gedicht als das Haiku gibt es nicht. Das prägt sich im Gedächtnis ein. Es hat in Deutschland viele Liebhaber. Es gibt Haiku-Vereine. Und die Mitglieder verfassen in Deutsch geschriebene Haiku. Das ist bewunderungswürdig. Aber vor lauter Begeisterung wird nicht daran gedacht, dass das Haiku erst relativ jung in der japanischen Literatur seinen Platz fand, nämlich seit dem 17. Jahrhundert.

Das Haiku, das aus 17 Silben besteht, ist aus dem „Tanka“ oder „Waka“ heraus entstanden, das stets 31 Silben umfasst. Auch die Abfolge ist bestimmt mit 5-7-5-7-7 Silben. „Tanka“ bedeutet Kurzgedicht. In Japan wird aber stets von „Waka“ gesprochen, was „Japanisches Gedicht“ bedeutet. Die älteste Sammlung ist aus dem frühen 9. Jahrhundert erhalten mit weit über 4000 (!) Gedichten. Wobei viele Gedichte auch schon aus dem 7. Jahrhundert, also bereits zweihundert Jahre früher, überliefert waren und in diese berühmte Sammlung der „Zehntausend Gedichte“ Manyoshu aufgenommen wurden.

Weil diese Gedichte dem japanischen Empfinden entsprochen hatten, wurden sie weiter gepflegt. Es entstanden neue Sammlungen, die über die Jahrhunderte auf uns gekommen sind. Dichter und Dichterinnen waren zumeist Hofadelige – ähnlich wie bei uns im Mittelalter die Minnesänger, die aus dem Rittertum hervorgingen. Weil diese Gedichte dermaßen populär waren, gab es Dichterrunden, in denen ein Teilnehmer die Zeilen 5-7-5 dichtete, der nächste die Zeilen 7-7, dann knüpfte ein Dritter mit weiteren 5-7-5 Zeilen an. Und wenn unter diesen Profi- oder auch Amateurdichtern genau hundert dieser Waka-Gedichte erreicht waren, machte man Schluss. Man nannte diese Art der Lyrik Kettengedicht. Das ist auch ein Grund, warum sich später das Dreizeilige Gedicht, das Haiku, selbständig machte …

Am Hof aber wurden so gut nie Haiku gedichtet. Man blieb bei der seit alters her überlieferten Gedichtform. Bis heute. Man blieb auch dabei, dass sich der gesamte Hofstaat mit der Kaiserfamilie an der Spitze bis zur Gegenwart mit dieser Gedichtform identifizierte und diese auch aktiv ausübt.

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Bild: Prof. Pantzer während seines Vortrags (Foto: Botschaft von Japan)

Welches sind die Gründe, die diese Gedichte so schön machen

Wie ist es möglich, dass diesen so kurzen Gedichten so viel Poesie innewohnt? Es hängt von der Sprache ab, die mit wenigen Worten viele Assoziationen ermöglicht und dadurch mit dem Sinn weit über Worte hinausreicht. Weil es in der japanischen Sprache viele Homonyme gibt, d. h. dass Wörter oder Wortteile mehrere Bedeutungen enthalten.

Der amerikanische Japanologe Donald Keene hat in seiner Einführung in die japanische Literatur dies überzeugend begründet. Keene nennt als Beispiel das Wort Shiranami, es bedeutet „weiße Welle“, die Gischt vor dem Bug, wenn ein Boot durch das Wasser fährt. Aber bei den ersten drei Silben kann man auch an shiranu denken, d.h. „unbekannt“ und beim zweiten Teil des Wortes nami („Welle“) kommt einem das Wort namida („Träne“) in den Sinn, wenn es sich so im Zusammenhang ergibt. Dann wird einem bewusst, dass ein Schiff über die weiß schäumenden Wellen fährt und eine Frau in Tränen Abschied nimmt, weil ihr Geliebter ins Unbekannte aufbricht. Und das mit ganz wenigen Worten.

Und es gibt noch einen zweiten Grund, der aus dem gesamten japanischen Kunstempfinden entspringt. Denn diese einzigartige Kürze des japanischen Gedichtes ist nicht nur auf Poesie beschränkt. Auch auf vielen anderen Gebieten finden wir Parallelen in der japanischen Bildenden Kunst – Schönes auf kleinstem Raume und mit sparsamsten Mitteln zu gestalten. Es wird nie der ganze Raum von einem Künstler bemalt oder beschriftet, sondern nur ein Teil des Raumes. Auch das Weggelassene spricht.

Von alters her ist am japanischen Kaiserhof ein Amt zur Pflege der Dichtkunst eingerichtet. Der Kaiser veranstaltet alljährlich zu Neujahr einen allgemein zugänglichen Wettbewerb der Waka-Dichtung, zu der er selbst für jedes Jahr die Themen vorgibt. Die gesamte kaiserliche Familie beteiligt sich. Auch die Bevölkerung ist eingeladen, Gedichte einzuschicken. Jedes Jahr 10.000 Gedichte oder mehr erreichen den Hof. Die ausgewählten Gedichte werden preisgekrönt, indem sie öffentlich im Beisein des Kaiserpaares feierlich vorgetragen werden. Auch im Fernsehen. Jedes Jahr.

Die Poesie der Kaiserin Michiko-sama

Wenn wir zurückblicken und die durch viele Jahrhunderte hindurch geschaffenen Gedichtsammlungen lesen, sind immer wieder Familienmitglieder des Kaiserhofes vertreten. Nehmen wir die berühmte, von Jürgen Berndt 1986 übersetzte Gedichtsammlung Hyakunin isshu („Hundert Gedichte von hundert Dichtern“) aus dem Jahr 1235 zur Hand, so finden wir darin sieben Kaiser, eine Kaiserin und viele Mitglieder des kaiserlichen Hofes, Frauen wie Männer.

Von Kaiser Meiji, Urgroßvater des heutigen Kaisers, gibt es tausende Gedichte – es ist in der Zeit, wo in Deutschland Wilhelm II. Kaiser war. Könnte man das von einem europäischen Souverän sagen? Diese Gedichte sind auch in englischer Sprache in Buchform am Meiji-Schrein in Tokyo erhältlich.

Auch Kaiserin Michikos Schwiegervater, Kaiser Hirohito, dichtete. Eines seiner Gedichte wurde in eine mit „Japanische Jahreszeiten“ betitelte und 1963 erschienene kleine Poesiesammlung aufgenommen. Übersetzer war Gerolf Graf Coudenhove-Kalergi, dem jüngeren Bruder von Richard Coudenhove-Kalergi, dem Gründer der Pan-Europa-Bewegung. Kaiser Hirohito, posthum Showa-Tenno genannt, hatte an der Wende des alten Jahres 1945 zum neuen Jahre 1946 ein Gedicht geschrieben. Es war das erste Neujahr nach der schrecklichen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Wie kann man, in poetischer Form, ein solches Unglück beschreiben, das Japan heimsuchte, Schuld, Niederlage und Neuanfang? Kaiser Hirohito machte es, indem er einen alten Föhrenbaum erwähnt, der „in der Winternacht unerschüttert dasteht, auch wenn lastend-schwerer Schnee seine Äste niederzwingt“.

In diesem Umfeld hatte Kaiserin Michiko, mit bürgerlichem Namen Shoda Michiko, geboren 1934, im Jahr 1959 den Kronprinzen Akihito geheiratet. Es war/ist nicht nur eine gute Ehe, sondern auch eine besondere. Kaiserin Michiko setzt auch die Tradition fort, die Frauen seit Jahrhunderten in der Kaiserlichen Familie bzw. am Kaiserlichen Hof spielten. Besonders in der Heian-Zeit vom 9. bis zum 12. Jahrhundert, wo die Frauen nicht zu den adeligen Ehemännern zogen, sondern diese zu ihren adeligen Frauen. Sie waren selbständig, dichteten Japanisch; während die Männer aus Selbstdünkel mehrheitlich auf Chinesisch dichteten und im Rückblick mit ihrer Poesie auf dem Abstellgleis landeten.

Kaiserin Michiko war von Haus aus begabt, spielt gut Klavier. Spricht perfekt Englisch, das sie sich an der katholischen Universität Sacré Coeur in Tokyo aneignete. War der Dichtkunst zugetan. Um noch besser zu werden, trat sie durch zwanzig Jahre in Verbindung mit der Poesielehrerin Goto Miyoko, der sie in diesem Buch ein eigenes Gedicht gewidmet hat.

Welche Gedichte der Kaiserin sind die schönsten?

Schwierige Antwort. Jedes! Der Leser muss entscheiden. Das Urteil sollen andere fällen. Jedenfalls hat Andreas Platthaus, der Literaturredakteur in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in seiner Rezension am 11. November 2017 das Gedicht der Kaiserin zum Ableben des Kaisers Hirohito 1989 erwähnt und auf zwei grammatikalische Möglichkeiten hingewiesen. Das Sinken in die Einsamkeit. Freudig wollte Michiko-sama, noch als Kronprinzessin, dem Kaiser etwas Fröhliches berichten. Und nach dem Aufwachen vom Traum sah sie die Wirklichkeit. Wie einsam ist man dann? Nur ich? Nur heute? Nein. Immer. Michiko-sama bezieht die Einsamkeit nicht nur auf sich.

In eben diesem Sinn ist auch das Gedicht über die zerstörte Buddha-Statue in Bamiyan in Afghanistan entstanden. Es war der Kaiserin schwer ums Herz, weil sie diesen Ort Jahre zuvor schon einmal gemeinsam mit dem Kronprinzen besucht hatte und beeindruckt war. Was mich beeindruckte ist, dass die Kaiserin die Schuld der Zerstörung nicht allein einigen unbedarften Menschen zuschob, sondern auch sie selbst, wir alle immer in irgendeiner Weise mit schuldig sind. Auch wir tragen Verantwortung für schlechte Taten, die man gerne von sich schiebt.

Berührend waren für mich auch die Gedichte „Frühlingslaternen“ (S. 83) und „Der Frühling in diesem Jahr“ (S.107). Das eine war den Opfern des großen Erdbebens im Raum Kobe und Osaka im Jahr 1995 und das andere jenen Menschen gewidmet, die unter der Naturkatastrophe – dem Seebeben und dem nachfolgenden Tsunami – in Tohoku 2011 leiden und sterben mussten. Beispielhaft, diese Empathie von Michiko-sama.

Ebenso berührend ist für mich das Gedicht zum 50jährigen Hochzeitsjubiläum des Kaiserpaares, wo es heißt „Der Tag geht zur Neige, noch schimmert von Ferne am Himmel ein sanftes Abendlicht“. Der lange Weg wird genannt, den beide an ihrem Wohnort beschreiten. Am Abend. Es ist aber der Weg des Lebens.

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Bild: Prof. Pantzer beantwortet Fragen von Journalisten (Foto: Botschaft von Japan)

Waka. Eine wunderbare Poesie

Am Kaiserhof verwendet man für „Waka“ noch ein anderes Wort: o-uta. Uta in japanischer Lesart heißt Gedicht, und das „o“ ist ein Honorifikum. Es erhöht die Sache. Nur die Gedichte, die eine Kaiserin schreibt, werden noch anders genannt: mi-uta, obwohl mit der gleichen Schreibweise. Damit weiß man sofort, wem diese Gedichte zuzuordnen sind.

Es gibt nicht nur regelmäßige Gedichttreffen am Hof zum Jahresbeginn. Der Hof trifft sich aber noch viel öfter, zum Beispiel am Tag der Kultur am 3. November, um ebenfalls Gedichte im Familienkreis zu einem bestimmten Thema beizutragen. Die Zahl der poetischen Schöpfungen der Kaiserin Michiko ist groß. Viele, sehr viele Sammlungen der Gedichte von Kaiserin Michiko wurden in Japan publiziert. Nun liegt erstmals eine Auswahl in deutscher Sprache vor. Schön, um das Buch in die Hand und die Poesie auf zu nehmen.

MICHIKO Kaiserin von Japan: Nur eine kleine Maulbeere. Aber sie wog schwer.
Aus dem Japanischen übertragen von Peter PANTZER. Kalligrafien von ISHITOBI Hakko. Mit einem Nachwort von HAGA Toru.
Freiburg - Basel - Wien: Herder, 2017, 141 S.

Prof. em. Dr. Peter Pantzer

1942 in Salzburg geboren. Nach der Promotion in Wien von 1968 bis 1971 Studium an der Universität Tokyo. Von 1988 bis 2008 Professor für Japanologie an der Universität Bonn. Zahlreiche Arbeiten zur Geschichte der Außenpolitik zwischen Japan und Deutschland sowie zwischen Japan und Österreich, des Kulturaustausches sowie der Kunstgeschichte in deutscher, englischer und japanischer Sprache sowie Betreuung einer Vielzahl von Ausstellungen. 2000 Verleihung des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse sowie 2007 des Ordens der Aufgehenden Sonne am Halsband, goldene Strahlen.