Gruppen dicht beieinander stehender Wolkenkratzer, Verkehrswege, die sich wie ein Spinnennetz über die ganze Stadt erstrecken, weite Grünflächen im Zentrum – viele der Bilder, die wir heute mit Tokyo assoziieren, haben ihren Ursprung im alten Edo, das sich zum Tokyo unserer Zeit entwickelte. Dieser Beitrag aus Niponica beruht auf einem Gespräch mit dem Stadtmorphologen Dr. Satoshi Okamoto.

Bild: Die Burg von Edo und ihre Umgebung während der frühen Edo-Zeit (17. Jh.). Der innere Graben verläuft bereits im Zickzack um die Burg herum, und die Wohnbezirke der daimyo, der Feudalherren, wurden ganz in der Nähe errichtet. Im Vordergrund erkennt man den Bezirk Nihonbashi. Die Brücken, die über die Gewässer führen, sind voller Menschen und veranschaulichen die Energie und die Dynamik der jungen Metropole. („Edo-zu Byobu“ Wandschirm aus dem 17. Jh. Im Besitz des National Museum of Japanese History)
Tokugawa Ieyasu (1542 – 1616), der 1603 das Edo-Schogunat errichtete, war 1590 in Edo eingezogen. Dieser Ort lag rund 500 km östlich der damaligen Hauptstadt Kyoto. Edo war ländlich geprägt, mit ausgedehnten Mischwäldern und Feuchtgebieten in der unmittelbaren Umgebung. Ieyasu begann umgehend damit, die Burg von Edo zu erweitern und einen Plan für die Stadt zu entwerfen. Als Erstes ließ er Kanäle anlegen, so dass das ganze Gebiet mit Booten erschlossen werden konnte. Im Bereich der alten Burg, wo sich heute der Kaiserpalast erstreckt, befand sich eine Flussmündung, die er auffüllen ließ. Wo heute im Viertel Marunouchi zwischen Kaiserpalast und dem Hauptbahnhof Tokyo sowie im Hibiya-Viertel südlich des Palastes zahllose Bürogebäude in den Himmel ragen, befand sich damals eine kleine Meeresbucht. Nachdem die Flussmündung aufgefüllt war, wurden die Hügel in der Umgebung abgetragen, um den Kanda-Fluss in einem neuen Lauf in Richtung Sumida-Fluss zu lenken.

Bild: Topographie von Edo um ca. 1590, als Tokugawa Ieyasu die Burg in Besitz nahm. Zu dieser Zeit reichte die schmale Meeresbucht fast bis zur Burg. Die Halbinsel Edo-maejima befindet in der Mitte der Karte. In der Gegend der Spitze der Halbinsel liegt heute das Ginza-Viertel. (Kartographie: Kenji Oguro)
Nachdem diese umfangreichen Arbeiten abgeschlossen waren, wurde ein tiefer Graben angelegt, der um die Burg herumführte – der Innere Burggraben. Als Hauptverteidigungsanlage wurde dann der Äußere Burggraben gestaltet, der 12 km lang ist und das ganze Gebiet weiträumig umschließt.

Bild: Dasselbe Gebiet von Edo um 1636. Durch das Auffüllen der Flussmündung wurde neues Land gewonnen. Der Innere sowie der Äußere Burggraben sind fast fertiggestellt. Der Kanda-Fluss wurde umgeleitet und folgt bereits ziemlich genau seinem heutigen Lauf. (Kartographie: Kenji Oguro)
Die Kanäle wurden zudem für die Ausweitung der Stadt genutzt. Damals wurden rund 300 Feudalherren (daimyo) aus allen Teilen des Landes nach Edo gerufen, um dort zeitweilig ihren Wohnsitz zu nehmen. Dies waren einige der vielen Fürsten, die den Tokugawa-Schogunen (den militärischen Herrschern Japans bis Mitte des 19. Jh.) Treue geschworen hatten. Die Regierung wies ihnen in ausgedehnten Gebieten entlang der Wasserwege und Straßen Wohnsitze an. Die Viertel der daimyo sollen damals bis zu 70 % der Stadtfläche ausgemacht haben. Mit dem Zuzug weiterer Feudalherren an die Ufer der Wasserwege nahm die Stadt immer mehr an Umfang zu.
Ab 1654 wurde über das neu errichtete Tamagawa-Aquädukt Wasser aus den Hügeln im Westen in die Stadt geleitet. Ein Teil des Wassers floss über den Äußeren und Inneren Burggraben in die Flüsse Kanda und Nihonbashi und von dort schließlich ins Meer. Die ambitionierte Planung der Stadt war damit abgeschlossen. Fünfzig Jahre zuvor von Ieyasu in Angriff genommen, hatten die Arbeiten mehr als eine Generation in Anspruch genommen. Edo wurde zu einer „Stadt des Wassers“ und entwickelte sich nun weiter zu einer Millionenmetropole.
Fast 300 Jahre lang fungierte Edo als wichtigste Burgstadt des Landes. Wie gelang es Edo, den Platz von Kyoto einzunehmen, das viele Jahrhunderte lang die Hauptstadt gewesen war? Es gibt dafür eine Reihe von Gründen – einer davon ist, dass das Terrain der Region großes Potenzial bot. Ieyasu hatte dies erkannt und entwickelte einen großartigen Plan für die Transformation von Edo in eine „Wasserstadt“. Heute können wir über sein kühnes Konzept nur staunen und auch über die außergewöhnliche Energie der Menschen, die dieses Konzept in die Realität umsetzten.

Bild: Das Gelände des Kaiserpalastes heute. Die Nijubashi-Brücke führt über den Inneren Burggraben. (Foto: Munemasa Takahashi)
Wenn man eine Karte von Edo aus dem 17. Jh. mit einer Karte des modernen Tokyo vergleicht, erkennt man, dass Tokyos Layout auf der Gestalt des alten Edo beruht: Über den aufgefüllten Kanälen wurden Autobahnen errichtet. Teile des Bahn- und U-Bahnnetzes folgen dem Äußeren Graben der Burg. Die großen Flächen, die früher von den Wohnsitzen der daimyo eingenommen wurden, werden heute für andere Zwecke genutzt, etwa für Regierungsgebäude, Schulen oder Parks.
Der Meiji-Schrein und der Shinjuku Gyoen-Park sind ehemalige Grundstücke, in denen daimyo residierten. Viele der Wolkenkratzer im Stadtzentrum befinden sich auf Flächen früherer daimyo Wohnsitze. Ehrgeizige Stadtentwicklungsprojekte wie die Viertel Marunouchi und Roppongi haben ebenfalls ihre Wurzeln in dieser Zeit.
Was einst eine wenig entwickelte Siedlung an der Küste war, verwandelte sich im Verlauf von 400 Jahren in eine der größten Metropolen der Welt. Die Grundlage dafür bildete das alte Edo und die Vision von Tokugawa Ieyasu. Wer durch das Tokyo von heute streift, kann an vielen Orten noch Spuren der Geschichte von Edo entdecken.

Bild: Dr. Satoshi Okamoto
Geboren 1952 in Tokyo. Promotion in Architektur an der Hosei University, Tokyo. Präsident des Okamoto Satoshi Urban Architecture Research Institute mit dem Fachgebiet Stadtmorphologie. Forscht seit über vierzig Jahren zur Geschichte der Entwicklung von Tokyo.
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