Vor fünfzig Jahren - im Oktober 1955 - trat Japan dem Colombo-Plan bei
und nahm damit seine offizielle Entwicklungshilfe auf. Zugleich agiert seit
nunmehr einem Jahr die 1974 gegründete Japan International Cooperation
Agency (JICA) als unabhängige Körperschaft des öffentlichen Rechts in neuem
Gewand.
Wir haben die Präsidentin der JICA, Sadako Ogata, zur Reform ihrer
Organisation sowie zur bisherigen Entwicklung und zur Zukunft der
internationalen Zusammenarbeit Japans befragt.
Internationale Zusammenarbeit als
Bestandteil der japanischen Kultur - Ein halbes
Jahrhundert japanische Entwicklungshilfe
Neuer Schwung und neue Form durch die Reform der JICA
Frage: Seit einem Jahr ist die JICA nun
eine unabhängige Körperschaft des öffentlichen Rechts. Zugleich sind Sie
seitdem als Präsidentin tätig. Wie sehen Sie Ihre Organisation
jetzt?
Ogata: Die Zeit vergeht wirklich sehr
schnell. Als ich vor einem
Jahr hier antrat, wurde die JICA im Rahmen ihrer
Umgestaltung umfassend reformiert. Sie war beseelt von dem Ehrgeiz, noch
mehr zu leisten als bisher. Ich denke, sie hat nun neuen Schwung und auch
eine Form bekommen.
Damit wir als unabhängige Körperschaft des öffentlichen Rechts in den
Entwicklungsländern Entwicklungshilfe leisten können, ist es unsere
wichtigste Aufgabe, unsere Projekte so zu gestalten, dass wir den
Bedürfnissen der betreffenden Staaten und Menschen genau entsprechen. Die
JICA muss sich fragen, wie sie angesichts der sich stetig wandelnden
Gesellschaften handeln soll. Hierfür sind Augen vor Ort, das richtige Wissen
und die Fähigkeit, dieses Wissen in konkrete Projekte umzuformen, sehr
wichtig. Die Reform unter dem Slogan „Höchste Priorität für die Bedürfnisse
vor Ort“ stellt einen Versuch in diese Richtung dar. Indem mehr Personal,
Finanzmittel und Befugnisse an die einzelnen JICA-Büros im Ausland abgegeben
wurden, konnten wir ein System des Projektmanagements realisieren, das sich
durch hohe Qualität auszeichnet.
Neue Herausforderung
Frage: Ab Oktober 2005 werden erstmals
konkrete Projekte unter Federführung der JICA-Büros im Ausland umgesetzt.
Ogata: Zunächst werden acht Büros vor
Ort in Eigenregie mit der Erarbeitung und Umsetzung von Projekten betraut
werden. Hinzu kommen weitere dreißig Büros, die als Förderschwerpunkte
gelten. Fünf davon werden über die Fähigkeit verfügen, diese Akti-vitäten auf
regionaler Ebene zu unterstützen. In Afrika sind dies unsere Niederlassungen
in Kenia und Senegal, während in Asien das JICA-Büro in Thailand diese
Aufgabe über-nimmt. Lateinamerika ist durch die Niederlassung in Mexiko und
die Region Ozeanien durch das Büro auf den Fidschi-Inseln abgedeckt. In
diesen regionalen Zentren sind die Fachkräfte stationiert, die sich in den
jeweils benötigten Bereichen auskennen. Sie kommen dann bei der
Programmentwicklung in allen Niederlassungen ihrer Region zum Einsatz und
erteilen zugleich Ratschläge. Darüber hinaus verfügt unser Büro in Südafrika
über Kapazitäten in den Bereichen Materialbeschaffung und Verwaltung für
eine größere Region. Dies habe ich, nachdem ich mir im Mai drei
Niederlassungen in Afrika angeschaut hatte, entschieden. Als nächstes werde
ich nach Mexiko und dann gegen Ende des Jahres nach Thailand fliegen.
Für mich ist es eine neue Herausforderung zu sehen, ob sich diese neue
Organisationsform bewährt.
Frage: Was werden Sie im Rahmen des
zweiten Jahres der Reform in Bezug auf die Durchführung der Projekte prüfen?
Ogata: Wir müssen unseren Kurs für
Projekte, die von Japan aus geplant und umgesetzt werden, genau festlegen.
Diese sind ein wesentlicher Bestandteil unserer zu leistenden
Entwicklungshilfe. Wir müssen überlegen, wie wir die Aufnahme von
Auszubildenden in Japan mit dem Ausbau unserer Kapazitäten im Ausland
verknüpfen können. Ich denke, dass wir die Inhalte und Methoden dieser
Ausbildungsprogramme stärker an unsere Schwerpunktregionen und ihre
Entwicklungsaufgaben anpassen sollten. Die einzelnen Einrichtungen, die jede
für sich ein breites Spektrum von Ausbildungsinhalten abdecken, könnten sich
auf bestimmte Gebiete, in denen sie über herausragende Fähigkeiten verfügen,
konzentrieren.
Wissen vor Ort für Projektumsetzung nutzen
Frage:
Wenn nun die „Höchste Priorität für die Bedürfnisse vor Ort“ konkret
umgesetzt wird - welche Erwartungen werden dann an die Fachkräfte und die
Teilnehmer der Japan Overseas Cooperation Volunteers sowie des Senior
Volunteers Program vor Ort gestellt?
Ogata: Sehr viele Fachkräfte und
freiwillige Helfer verfügen
über ausgezeichnete Kenntnisse der Situation vor
Ort. Vielleicht haben aber nicht alle ihre Arbeit so bewertet, dass sie
diese Kenntnisse in angemessener Weise für unsere Projekte einbringen
konnten.
Indem nun die Büros vor Ort die Führung übernehmen, gelangt nun auch die
Grundlage dieses Wissens direkt an den Einsatzort. Ich möchte unsere
Mitarbeiter bitten, dort ihre eigenen Ansichten zu äußern und sich auch
aus-zutauschen. Ich bin überzeugt, dass es uns dann gelingen wird, auf die
Vor- und Nachteile der Gesellschaften, mit denen wir zusammenwirken,
einzugehen und heraus-zufinden, was genau deren Bedürfnisse sind.
Gemeinschaften im Blickpunkt der Entwicklung
Frage: Die drei Säulen der Reform der
JICA lauten „Höchste Priorität der Bedürfnisse vor Ort“, „Effizienz und
hohes Tempo“ sowie „Human Security“. Ihre Aufgabe ist es, diese Prinzipien
in konkrete Projekte zu formen. Das Konzept von „Human Security“ umfasst ein
sehr breites Spektrum und überschneidet sich teilweise mit den Projekten,
die von der JICA bislang umgesetzt wurden. Führt dies bei der konkreten
Umsetzung nicht auch zu Verwirrung?
Ogata: Ja, das kann schon sein. Der Kern
des „Human Security“-Konzeptes besteht aus der Stärkung der Fähigkeiten der
Gemeinschaften, d.h. es ist Entwicklung von unten. Die JICA beginnt jetzt -
wenn wir den Blick auf die Entwicklung der Gemeinschaften in Form von
Menschen oder ganzen Gruppierungen richten - darüber nachzudenken, wie wir
unsere bisherigen Projekte einschätzen können. Wir haben die „Sieben
Gesichtspunkte in Bezug auf Human Security“ erstellt und beginnen nun damit,
die bisherigen Projekte unter diesen Gesichtspunkten zu bewerten. Dadurch
legen wir den Schwerpunkt auf „Human Security“, auf die Stärkung der
Fähigkeiten der Gemeinschaften. Gleichzeitig wirkt sich „Human Security“
auch positiv auf die Fähigkeiten der Regierungen aus - hier stellt sich die
Frage, wie man dies mit dem Ausbau der Fähigkeiten der Gemeinschaften
verknüpfen kann. Es ist wichtig, nicht allein das Konzept im Kopf zu haben,
sondern es auch mit den Projekten vor Ort ganz konkret zusammenzuführen. Für
alle Mitarbeiter vor Ort ist es bei der Analyse ihrer bisherigen Aktivitäten
wichtig, nicht daran zu denken, dass „alles, was ich bisher gemacht habe, in
den Bereich von Human Security fällt“, sondern zu überlegen, wie sie ihre
Aktivitäten und Projekte unter Berücksichtigung der Aspekte von „Human
Security“ weiterentwickeln können.
Zurück zum Geist des Colombo-Plans
Frage:
In diesem Jahr jährt sich der Beginn der internationalen
Zusammenarbeit Japans zum fünfzigsten Mal. In den letzten zehn Jahren hat
sich zusammen mit der internationalen Gemeinschaft auch die internationale
Zusammenarbeit verändert. Welche Bedeutung hat die offizielle
Entwicklungshilfe im 21. Jahrhundert für Japan?
Ogata: Vor fünfzig Jahren wurde Japan im
Rahmen des Colombo-Plans zum Geberland. Damals hat Japan selbst noch Hilfe
erhalten; weil es sich aber darüber im Klaren war, dass Wohlstand nur
gemeinsam erreicht werden kann, hat unser Land schon damals begonnen, selbst
Hilfe zu leisten. Ich denke, es ist wichtig, dass wir zu diesem Geist
zurückkehren. Es gibt wohl keinen Staat, der sowohl im Bereich der Wirtschaft, als auch im
Bereich der Sicherheit mehr von den Segnungen der internationalen
Gemeinschaft profitiert hat, als Japan. Heute sind wir die zweitgrößte
Wirtschaftsnation der Welt, und wenn wir uns jetzt fragen, wovon der
Wohlstand und die Sicherheit künftig abhängen, dann sind dies nach wie vor
die gegenseitigen Abhängigkeiten auf internationaler Ebene. Auch für uns
selbst ist es wichtig, dass wir gemeinsam mit den anderen Staaten dafür
wirken, dass jedes Land seinen Wunsch nach Wohlstand und Sicherheit
realisiert. Wir müssen uns erneut darüber im Klaren sein, dass ein sehr
wichtiges Mittel dafür die Entwicklungshilfe ist.
Frage: Als neuer Trend bei der Hilfe
gewinnt die Unterstützung für die Schaffung von Frieden immer mehr Bedeutung.
Ogata: Heute gibt es immer mehr Regionen
und Staaten, in denen ein Konflikt durch einen Waffenstillstand beendet und
der Weg zum Frieden beschritten wird. Hier müssen wir noch schneller als
bisher Hilfe beim Wiederaufbau leisten. Wo der Frieden in greifbare Nähe
gerückt ist, darf es keinen Rückfall geben; es muss möglichst schnell ein
wirklicher Frieden erreicht werden. Da die reale Welt nun aber doch
komplizierter ist, sind auf der anderen Seite auch die Bekämpfung von Armut
sowie die Beseitigung von Un-gerechtigkeiten sehr wichtig. Dort, wo
gravierende Unterschiede, Gewaltherrschaft und Ausbeutung lange andauern,
wird die Saat für Menschenrechtsverletzungen, Unge-rechtigkeit,
Unzufriedenheit und Konflikte gesät. Es ist sehr wichtig, dass alle
Beteiligten dies erkennen und bewusst dazu beitragen, dass alle Menschen
friedlich zusammenleben können.
Japan hat aufgrund der bitteren Erfahrungen des letzten Krieges sowie des
daraus resultierenden starken Wunsches nach Frieden in den letzten sechzig
Jahren seinen Weg als ein Land beschritten, in dem die Menschen der Souverän
sind. Deshalb wird Japan nun von anderen anerkannt und selbst um Hilfe
gebeten.
Keine Introvertiertheit
Frage:
Sie haben einmal gesagt, als Sie nach Japan zurückkehrten, sei es ein Schock
für Sie gewesen, zu sehen, wie introvertiert die japanische Gesellschaft
geworden sei.
Ogata: Alle Industrieländer neigen zur
Introvertiertheit. Allerdings ist nun ein Wandel spürbar. Man hat erkannt,
dass der Terrorismus nicht mit Introvertiertheit besiegt werden kann. Die
Vereinigten Staaten haben ihre Ent-wicklungshilfe, die vorübergehend
zurückgegangen war, inzwischen wieder aufgestockt. In den europäischen
Ländern beginnt man nun zu begreifen, dass die eigene langfristige
Sicherheit erst dann möglich wird, wenn man die Armut in den
Entwicklungsländern
aktiv bekämpft. Man diskutiert heute weltweit darüber, wie soziale
Gerechtigkeit zu Stabilität und Sicherheit beitragen kann. Als ich nach
Japan zurückkam, stellte ich fest, dass dieses Bewusstsein hierzulande noch
wenig ausgebildet ist.
In den neunziger Jahren, als ich überwiegend im Ausland tätig war, war der
internationale Beitrag ein deutliches „Zeichen“ von Japan in der Welt. Als
dann die japanische Wirtschaft in die Krise geriet, wurde die offizielle
Entwicklungshilfe drei Jahre in Folge gekürzt. Ich denke, es ist jetzt Zeit
darüber nachzudenken, ob dies wirklich richtig war.
Frage:
Welche Rolle kann die JICA dabei spielen, die große Bedeutung von
Entwicklungshilfe zu vermitteln?
Ogata: Ein Mittel ist sicherlich das
Vorweisen guter Leistungen. Wir können nur gute Arbeit leisten, wenn die
Menschen in Japan unsere Leistungen anerkennen und unterstützen. Hierfür
sind die Anstrengungen vieler Einzelner von großer Bedeutung. Gerade deshalb
sind die Japan Overseas Cooperation Volunteers so wichtig. Weltweit sind
junge Menschen aus Japan und anderen Ländern aktiv, die etwas bewegen wollen.
Diese freiwilligen Helfer kenne ich bereits seit vielen Jahren. Länger sogar
als JICA (lacht). Dann gibt es noch das Senior Volunteers Program, dessen
Teilnehmer über mehr Lebensjahre und Erfahrung verfügen und die noch einmal
eine Aufgabe übernehmen wollen. Die Erfahrungen, die aus diesen von Japanern
gestalteten Aktivitäten und den Aktivitäten der JICA resultieren, möchte ich
für die Verbreitung der Kenntnisse über Entwicklungszusammenarbeit nutzen.
Insbesondere die freiwilligen Aktivitäten von noch aktiven Ausbildern sind
außerordentlich effizient, und ich möchte diese weiter ausbauen.
Viele Mitarbeiter, die nach einigen Jahren nach Japan zurückkehren, werden
in Nichtregierungsorganisationen (NGO) tätig, und wir sollten diese
Aktivitäten anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums von ODA weiter fördern.
Der Wunsch, etwas für andere Menschen zu tun, mit anderen eine Gemeinschaft
aufzubauen, ist in der japanischen Gesellschaft seit alters her vorhanden.
Ich habe einmal die Formulierung „Internationale Zusammenarbeit als
Bestandteil der japanischen Kultur“ geprägt, tatsächlich aber wurzelt die
internationale Zusammenarbeit tief innerhalb der traditionellen Kultur
Japans.
(Quelle: "Frontier", Oktober 2004)
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