In dieser Ausgabe stellt Neues aus Japan die japanische Schriftstellerin
Yoko Tawada vor. Sie wurde 1960 in Tokyo geboren und lebt
seit 1982 in Hamburg. Studium der Literaturwissenschaft in Tokyo und
Hamburg. Zahlreiche Preise in Deutschland und Japan, u. a. 1993 den
renommierten Akutagawa-Preis und 2003 den Junichiro Tanizaki-Literaturpreis.
Sie schreibt auf Deutsch und auf Japanisch.
NaJ:
Welche Ihrer Eigenschaften empfinden Sie als typisch japanisch?
Tawada: Beim
Schreiben habe ich kein Problem, assoziativ zu schreiben; das heißt, es geht
nicht um die Logik oder um die Handlung, sondern um Bilder, die mir in
bestimmten Augenblicken einfallen. Ich glaube zu wissen, wann ein Bild an
einer Stelle richtig oder falsch ist, auch wenn es unpassend oder zufällig
zu sein scheint.
NaJ: Was fasziniert Sie so an
Deutschland, dass dieses Land praktisch zu Ihrer zweiten Heimat wurde?
Tawada: Zuerst war es mehr oder weniger
Zufall. Da ich in Japan russische Literatur als Schwerpunkt studiert habe,
wollte ich ursprünglich nach Russland. Da es aber leider damals nicht
möglich war, in Russland zu studieren, beantragte ich ein Stipendium für
Polen. Doch wegen der Unruhen in Warschau 1980 verwirklichte sich auch
dieser Wunsch nicht. Letztendlich fand ich in Hamburg eine Praktikumsstelle.
Zu diesem Zeitpunkt war mir ein Praktikum sehr wichtig, denn ich wollte
nicht einfach nur weiterstudieren. Ich wollte eine europäische Sprache, in
diesem Fall also Deutsch, unter einem nicht-akademischen Gesichtspunkt
betrachten. Ich wollte erfahren, wie die Leute mit ihr umgehen und leben,
weil sie ja so anders ist als die japanische Sprache. Im Nachhinein habe ich
mir aber doch noch die Universität Hamburg angeschaut. Es ging dort so
richtig chaotisch zu. Es war nicht so wie in Japan, wo man ganz genau weiss,
welche Kurse man wann belegen muss. Mir kam es vor, als gäbe es keine
richtige Universität, sondern nur ganz viele Gruppen von Menschen, die über
ein Buch reden. Ich lernte aber eine Professorin kennen, die mich
inspirierte. Deshalb habe ich weiter studiert und schrieb sogar meine
Doktorarbeit. Damals habe ich hauptsächlich Gedichte geschrieben, die dann
auch von einer deutschen Verlegerin publiziert wurden. Auch die Lesungen
waren für mich eine Entdeckung, weil sie ja in Japan eher unüblich sind. Man
hat in Deutschland das Gefühl, dass man als Schriftsteller eine Kulturarbeit
leistet, der man einen gewissen gesellschaftlichen Wert zuschreibt, auch
wenn sich ein Buch nicht sonderlich gut verkauft. Das war der Grund, weshalb
ich dann hier geblieben bin.
NaJ: Sie leben nunmehr seit über zwanzig
Jahren in Deutschland. Gibt es deutsche Eigenschaften, die Sie sich im Laufe
der Zeit angeeignet haben?
Tawada: Wenn mich ein deutscher Verleger
fragt, ob ich zum Beispiel einen Text für eine Zeitschrift schreiben möchte,
habe ich kein Problem, ihm klar und deutlich abzusagen, wenn mir nicht
danach ist. Aber die japanischen Verleger sind ja auch ganz anders. Sie
laden die Autoren erst einmal zu verschiedenen Veranstaltungen ein und
irgendwann findet man sich in einem „Ja-Kontext“ wieder. Manchmal empfinde
ich dies als eine Falle und genau diese Empfindung mag deutsch an mir sein.
Dennoch schätze ich die japanischen Verleger, weil sie keine Mühe scheuen,
den Autoren ihre Dienste anzubieten; denn es geht ihnen um die
Gesamtbeziehung zu den Schriftstellern, nicht um die einzelnen Dinge, bei
denen man sich jedes Mal fragen muss, ob man dazu verpflichtet ist oder
nicht. Manchmal klappt dies auch sehr gut.
NaJ: Frau Tawada, Sie leben in Hamburg,
aber fliegen zwei bis drei Mal im Jahr nach Tokyo. Wo läßt es sich Ihrer
Ansicht nach schöner leben?
Tawada: In Tokyo kann man besser essen,
aber in Hamburg kann ich besser schreiben. In Japan hat man irgendwo ein
schlechtes Gewissen, wenn man alleine ist und sich abschirmt und die ganze
Zeit nur am eigenen Text arbeitet. Dieses Verhalten wird in Japan nicht als
normal angesehen. Deshalb geht man lieber raus und redet mit anderen Leuten.
Dadurch verliert man Zeit. In Deutschland habe ich zwar viel mehr Freunde,
aber trotzdem habe ich hier mit keinerlei Gewissensbissen zu kämpfen.
NaJ: Hatten Sie jemals das Gefühl, dass
die Struktur der Sprache den Inhalt Ihrer Aussage in irgendeiner Weise
beeinflußt hat?
Tawada: Ja, aber komischerweise nicht,
wenn ich über die Literatur spreche. Da gibt es nämlich keinen inhaltlichen
Unterschied zwischen dem, was ich auf Japanisch oder auf Deutsch sage.
NaJ: Vermutlich, weil Sie in beiden
Sprachen experimentieren, nicht wahr?
Tawada: Ja, das auch. Aber im Alltag ist
es ganz anders. Zum Beispiel würde ich niemals auf die Idee kommen, über das
Wetter zu fluchen, wenn ich gerade auf Japanisch denke. Ich würde den Fluch
nicht einmal verinnerlichen können. Zwar mag das Wetter nicht unbedingt
heilig sein, aber es ist auch nicht etwas, was man unbedingt „beschimpfen“
müsste. Aber im Deutschen fluche ich über das Wetter, ohne mich dabei
verstellen zu müssen.
NaJ: Denken Sie, dass die Struktur einer
Sprache eine so wesentliche Rolle spielt, dass sie möglicherweise die
Charakterzüge eines Menschen beeinflussen könnte?
Tawada: Ich denke eher, dass jede
Sprache ihre eigene Struktur hat. Jedoch entspricht sie nie dem menschlichen
Gefühl. Aber wir müssen mit ihr auskommen und so sagen wir Dinge, die nicht
unbedingt gelogen sind, aber trotzdem nicht identisch sind mit unseren
Gefühlen. Das Adjektiv „traurig“ an sich hat zwar eine Position innerhalb
der Sprache, aber es bedeutet nichts. Aber in der Literatur kann man über
etwas ganz anderes schreiben, zum Beispiel über das Wasser oder eine
bestimmte Farbe, und sie korrespondieren im Kopf der Leser mit dem Gefühl
der Traurigkeit.
NaJ: Glauben Sie, dass man auch ohne
Wörter denken kann?
Tawada: Das ist eine sehr gute und große
Frage. Ich habe das Gefühl, dass man das kann, aber viele Leute sagen, nein,
dann ist es kein Denken mehr.
NaJ: Ich denke, dass man sich die Dinge
mit Hilfe der Wörter besser merken kann. Durch das Gedächtnis kann man
kompliziertere Denkstrukturen aufbauen.
Tawada: Ich denke, dass man Gerüche oder
Farben oder Stimmungen unbewußt wahrnehmen kann, die dann im späteren Leben
plötzlich eine Depression auslösen. Man könnte eines Tages Angstzustände
bekommen oder aggressiver werden als man es sonst ist und dies mag auch mit
den Erfahrungen zu tun haben, die nicht unbedingt verbal verarbeitet wurden.
NaJ: Japaner haben ja bekanntlich große
Probleme mit Fremdsprachen. Wie erklären Sie sich Ihre sprachliche Begabung?
Tawada: Ich glaube nicht, dass ich
besonders begabt bin, aber durch die Literatur habe ich einen ganz anderen
Zugang zu der Sprache. Ich mache auch sehr viel mehr Fehler als die, die
sprachbegabt sind. Ich habe eine Beziehung zu der Sprache, die eigenartig
literarisch ist. Durch diese Beziehung habe ich die Sprache ganz anders
gelernt.
NaJ: Aber Sie haben wirklich die Geduld
aufgebracht, sich in eine fremde Sprache hineinzudenken und genau dies
betrachte ich als eine Begabung an sich.
Tawada: Ich denke, dass die Gesellschaft
so ist, dass die Erwachsenen darauf achten, nicht sprachbehindert zu wirken.
Aber ich habe Zweifel an der vollkommenen, fertig gelernten Sprache, weil
verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten dabei verloren gehen. Wenn Menschen
korrekt reden, sprechen sie meist wie ihre Mitmenschen. Es ist überhaupt
uninteressant, was sie bereden und wie sie reden. Ich finde es viel
spannender, wenn die Sprache irgendwo kaputt und komisch ist. Oder wenn
jemand etwas Unpassendes sagt, dann entsteht eine künstlerische Intensität.
Wer von dieser Philosophie überzeugt ist, dem ist es nicht mehr peinlich,
etwas Falsches oder Komisches zu sagen. Wenn man als erwachsene Person eine
Fremdsprache erlernt, muss man natürlich eine enorme Geduld haben, um auch
erfinderisch und experimentierfreudig zu sein, ohne ständig darauf zu achten,
Peinlichkeiten zu vermeiden. Das ist natürlich eine wichtige Sache für die
Kreativität, denn sonst hätte ich mir auch nicht die Mühe gemacht, die
deutsche Sprache zu erlernen. Hinter jedem deutschen Wort steckt nämlich
eine peinliche Geschichte...
NaJ: Kommen
wir zur allerletzten Frage: Haben Sie ein deutsches Lieblingswort?
Tawada: Zur Zeit heißt mein
Lieblingswort „Wirbelsäule“. Die „Säule“ vermittelt einen soliden, fast
unbeweglichen Eindruck, aber durch den „Wirbel“ kommt Bewegung in das Wort
hinein. Die „Wendeltreppe“ gefällt mir auch sehr.
NaJ: Vielen Dank für das aufschlußreiche
Gespräch!
Tawada: Ganz meinerseits.
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