
Vortrag von Premierminister Yoshihiko Noda anlässlich der „Ersten Gesprächsrunde mit dem Premierminister in der Japan Akademeia“ am 24.03.2012

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
vielen Dank dafür, dass Sie diese Gesprächsrunde vorbereitet und ermöglicht haben. Ich habe heute nun die Gelegenheit, vor führenden Vertretern aus allen Bereichen der Gesellschaft einen einleitenden Vortrag zu halten, und ich möchte Sie bitten, im Anschluss daran ganz offen Ihre Meinung zu sagen. Ich weiß nicht, ob ich mich bei meinem Vortrag immer an den fünf Punkten orientieren werde, auf die Herr Sasaki hingewiesen hat, jedoch umfassen diese Punkte Aufgaben, die für uns wichtig sind. Am gestrigen Tag war das Programm recht umfangreich, so dass ich nicht weiß, ob ich meine Überlegungen wirklich in ausgefeilter Form vortragen kann. Jedoch werde ich mich bemühen, gegen Ende meines Vortrags auch auf die genannten Punkte einzugehen.
Ich bin Jahrgang 1957, also jetzt 54 Jahre alt. Zurzeit läuft in den Kinos der Film „Abendsonne in Sanchome“ und er ist wirklich gespickt mit zahlreichen Erinnerungen auch an meine Kindheit. Mein Vater war Unteroffizier bei den Selbstverteidigungsstreitkräften und wir lebten damals keineswegs im Wohlstand. Als Kind trug ich nicht jeden Tag ein neues T-Shirt, sondern vielmehr ein ärmelloses Sporthemd, an dem vielleicht noch Kerne von Wassermelonen klebten. Damit lief ich den ganzen Tag auf dem Baseballplatz herum, bis ich vollkommen schmutzig nach Hause kam. Beim Essen zuhause wurden beispielsweise immer nur drei Fische aufgetischt, obwohl wir zu viert in der Familie waren. Wir fragten unsere Mutter, ob sie keinen Fisch mag, aber sie antwortete, dass sie Fisch gerne isst. Sie hat dann immer das Fleisch an den Gräten der Fische, das wir Kinder übrig gelassen hatten, sorgfältig abgesucht und zusammen mit ihrem Reis gegessen. Eine sehr peinliche Erinnerung aus meiner Kindheit hängt wohl mit unserem damaligen eher ärmlichen Alltagsleben zusammen. In der Grundschule wurden wir einmal nach unserem Lieblingsobst befragt, und ich kann mich erinnern, dass ich die Banane nannte. Eine Mitschülerin sagte, sie möge am liebsten Grapefruits. Ich wollte mich wohl besonders hervortun und fragte sie, warum sie nicht das normale japanische Wort „Traube“ verwende. Ich kannte damals den Unterschied zwischen „Grape“ und „Grapefruit“ nicht. Erst später habe ich dann selbst einmal eine Grapefruit gegessen und gemerkt, wie lecker sie schmeckt.
Was möchte ich damit sagen? Ich möchte Ihnen damit verdeutlichen, dass sich damals die Speisen in Japan, die auf den Esstisch kamen, allmählich wandelten. Auch die Konsumgüter in den Familien veränderten sich: Schwarzweiß-Fernseher wurden durch Farbfernseher abgelöst, und jeden Tag hatten die Menschen die feste Überzeugung, dass es morgen wieder ein wenig besser sein wird als heute. Es war diese Zeit, wie sie in dem gerade genannten Film „Abendsonne in Sanchome“ so eindrucksvoll beschrieben wird. Bedauerlicherweise hat nach dem Zusammenbruch der Bubble Economy die Zahl der Menschen, die eben diese Zuversicht – nämlich dass „es morgen besser sein wird als heute“ - verloren haben, erheblich zugenommen. Ich bin der festen Überzeugung, dass sich die Politik heute dafür einsetzen muss, dass die Menschen in unserem Land auch angesichts des Wandels der Bevölkerungsstruktur, der schwierigen Haushaltslage und der Situation, dass ein hohes Wirtschaftswachstum wohl nicht zu erwarten ist, doch die Zuversicht wiedergewinnen, dass es morgen ein wenig besser sein wird als heute und dass wir ein solches Land, eine solche Gesellschaft und ein entsprechendes Alltagsleben für die Menschen gestalten - auch wenn wir nicht mehr in einer Zeit leben wie in dem Film „Abendsonne in Sanchome“, als es noch viele junge Menschen gab und die Wirtschaft jährliche Wachstumsraten von 10 % und mehr erzielte. Um dies zu erreichen, ist es vor allem notwendig - und dies habe ich auch in meinen bisherigen Regierungserklärungen stets zum Ausdruck gebracht – eine „breite und stabile Mittelschicht“ zu schaffen. Ich persönlich messe diesem Anliegen große Bedeutung bei.
Bei der Schaffung einer „breiten und stabilen Mittelschicht“ müssen wir uns, bevor wir diese Herausforderung in „Angriff“ nehmen, zunächst um ihre „Verteidigung“ kümmern. Warum? Weil heute immer mehr Menschen aus dieser Mittelschicht herausfallen. Wir müssen eine Gesellschaft gestalten, in der diejenigen, die aus der Mittelschicht herausgefallen sind, auch die Chance erhalten, wieder zu ihr zurückzukehren. Ich selbst habe das Gefühl, dass die Mittelschicht heute eine absteigende Tendenz aufweist. Angesichts dessen halte ich es für wichtig, die Kluft zu verringern und gleichzeitig ein Sicherheitsnetz zu gestalten, damit niemand aus der Mittelschicht herausfallen kann. Es sollte also eine Art „Trampolin“ geben, mit dem diejenigen, die einmal heruntergefallen sind, wieder nach oben springen können. Es ist eine solche Gesellschaft, die wir gestalten sollten.
Ich persönlich glaube, dass sich die Menschheit auf ihrem langen Weg und unter Aufbietung aller Kräfte bestimmte Werte angeeignet hat, die für die Gestaltung einer solchen Gesellschaft wichtig sind. Einer dieser Werte ist die Freiheit und ein weiterer Wert lautet Gleichheit. Freiheit und Gleichheit miteinander in Einklang zu bringen – darin kommt die ganze Weisheit der Menschen zum Ausdruck. Ich denke, dass es Situationen gibt, in denen wir mit dem rechten Fuß der Freiheit einen Schritt nach vorn machen müssen. Dann wieder gibt es Situationen, in denen wir mit dem linken Fuß der Gleichheit voranschreiten müssen. Es ist wie bei einem Menschen, der beide Füße abwechselnd nach vorne bewegt, um vorwärts zu kommen. In Zeiten des Sozialismus oder der Planwirtschaft ist es für die Welt von Vorteil, wenn Deregulierungen vorgenommen werden und der rechte Fuß der Freiheit nach vorne bewegt wird. Wenn aber eine Kluft entsteht und immer mehr Menschen in Armut geraten, dann ist es an der Zeit, mit dem linken Fuß der Gleichheit auszuschreiten. In diesem Sinne halte ich gerade in dieser Zeit des Wandels eigentlich den Liberalismus für überlegen.
Allerdings glaube ich auch, dass es in der heutigen Situation von Vorteil wäre, wenn wir mit dem linken Fuß der Gleichheit voranschreiten würden. Zurzeit konzentriert sich die Diskussion zum Thema Steuern ausschließlich auf die Verbrauchssteuer, jedoch bin ich der Auffassung, dass eine Steuerreform notwendig ist, bei der die Umverteilungsfunktionen stärker berücksichtigt werden sollten, etwa in Form einer Anhebung der Einkommenssteuer bei den höheren Einkommen oder auch der Vermögenssteuer. Dies wäre natürlich nicht für immer. Es wird auch wieder eine Zeit kommen, wo der rechte Fuß der Freiheit ausschreiten wird. Das aber muss zum richtigen Zeitpunkt geschehen, und es ist Aufgabe der Politik, diesen richtigen Zeitpunkt zu bestimmen und dann die Entscheidung zu treffen. Dazu aber ist es notwendig, dass zunächst einmal die Probleme, die wir bereits in Angriff genommen haben, etwa der Umgang mit der steigenden Zahl von Arbeitnehmern in atypischen Beschäftigungsverhältnissen oder die Unterstützung für Arbeitssuchende, gelöst werden.
Es gibt einen weiteren Punkt, in dem wir uns um die „Verteidigung“ bemühen müssen. Damit die „breite und stabile Mittelschicht“ wiederbelebt werden kann, muss die Wirtschaft wachsen. Um das zu bewerkstelligen, müssen wir genau erkennen, wo Japans Stärken liegen, damit wir diese Potentiale dann auch richtig nutzen können. Unsere Regierung wird die Strategie für neues Wachstum, die noch von der Regierung Kan aufgestellt wurde, weiter vorantreiben. Die Pfeiler dieser Strategie sind die beiden Bereiche „Life Innovation“ und „Green Innovation“.
Was heißt das genau? Es wird heute viel über das Gesundheits- und Versicherungssystem in Japan diskutiert, aber wir sind das Land mit der höchsten Lebenserwartung und der niedrigsten Säuglingssterblichkeit weltweit. Das ist ganz hervorragend. Weil Japan diese Leistungen vollbracht hat, werden, wenn der Bereich medizinische Behandlung und die Gesundheitsindustrie als unsere Stärken weiter ausgebaut werden, auch andere Länder zweifelsohne von uns lernen wollen.
Der andere Pfeiler ist der „grüne“ Bereich. Nach der Erfahrung des Ölschocks haben wir in Bezug auf die Energieeffizienz eine weltweit führende Stellung erobert und wir sind Weltmeister beim Einsparen von Energie. Zwar steht unser Land heute infolge des Atomunfalls vor einer sehr schwierigen Situation, aber Japan hat nun eine Initiative dahingehend gestartet, die erneuerbaren Energien auszubauen, seine Energieeffizienz weiter zu verbessern sowie eine Gesellschaft mit niedrigem CO2-Ausstoß zu schaffen. Ich bin davon überzeugt, dass sich hier auch große Möglichkeiten für unsere Wirtschaft eröffnen. Diese beiden Bereiche müssen von uns entschieden angepackt werden und wir müssen unsere wertvollen Ressourcen dafür bereitstellen. Darüber hinaus sollten wir uns auch bei der Erschließung der Ozeane sowie in der Raumfahrt engagieren.
Angesichts dessen ist es nicht mehr länger möglich, als Kern der Finanzierung der sozialen Sicherheit die Versicherungsbeiträge der berufstätigen Menschen zu nehmen. Und es geht auch nicht an, dass wir den künftigen Generationen die Hand in die Taschen stecken und uns von ihnen Geld leihen. Es bleibt uns als stabile Finanzierungsquelle der sozialen Sicherheit folglich nichts anderes übrig, als den jetzt lebenden Generationen auf breiter Basis eine geringfügige Belastung aufzuerlegen, die alle gemeinsam tragen, und zwar in Form einer einzuführenden Verbrauchssteuer. Auch hier duldet die Situation keinen Aufschub.
Wie Ihnen allen bekannt ist, bestehen auf den Ozeanen die sogenannten „ausschließlichen Wirtschaftszonen“ (EEZ). Japans EEZ ist weltweit die sechstgrößte. Gemessen an der Landfläche liegt unser Land auf Platz 60 in der Welt und ist damit eher klein. Wenn man aber auch die Ozeane mit einbezieht, dann ist Japan doch ziemlich groß und rangiert wie gesagt auf Platz sechs. Aber das Meer ist nicht nur eine Fläche, es reicht auch in die Tiefe. Wenn man das Volumen der Meeresgebiete zugrundelegt, die Japan kontrolliert, dann kommt unser Land weltweit auf Platz vier. Und bei den Meeresgebieten, die tiefer als 5000 m liegen, liegen wir sogar auf Platz eins. Diese Gebiete liegen alle um Japan herum, und dort finden wir auch Bodenschätze wie etwa Methanhydrat. Wir müssen daher auch die Ozeane neu erschließen.
Nun zur Raumfahrt. Wir starten Raketen und Satelliten ins All und verfügen über Weltraumbahnhöfe. Im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit haben wir auch Astronauten ausgebildet und in den Weltraum geschickt. Ich glaube, wir können eine der führenden Raumfahrtnationen sein, wenn wir unsere Hände nach dem Weltraum ausstrecken. Was bedeutet das – eine führende Raumfahrtnation? Es bedeutet, dass wir ein Land werden können, das den „Atem der Erde“ am deutlichsten spürt. Ein solches Land kann nicht nur einen wichtigen Beitrag für unsere Erde leisten, sondern es eröffnen sich damit auch zahlreiche Chancen für unsere Wirtschaft.
Wir dürfen bei den gerade genannten Bereichen nicht nachlässig sein, sondern müssen sie mutig erschließen. Ich möchte, dass Japan diese Aufgaben in Angriff nimmt. Es geht nicht nur um die Probleme, die wir im Inland haben. Unsere Bevölkerung nimmt bedauerlicherweise allmählich ab. Vielleicht werden wir in Zukunft nur noch achtzig Millionen Menschen sein. Wenn wir aber den Blick auf die Region Asien-Pazifik richten, so ist dort eine riesige Mittelschicht im Entstehen begriffen und es besteht dort ein Markt für zahlreiche Infrastrukturprojekte. Wir müssen uns hier nachdrücklich engagieren.
Betrachtet man einmal das Entstehen der Zivilisationen, so entstanden diese etwa am Gelben Fluss in China, in Mesopotamien, am Nil oder am Indus. Über Griechenland und Rom breitete sich die Zivilisation auf ganz Europa aus. Später kam dann die Epoche des britischen Empire und im 20. Jahrhundert die Dominanz der Vereinigten Staaten, die auch heute noch über große Potentiale verfügen. All dies geschah vor allem in der westlichen Hemisphäre. Nun aber ist die Ära der „Pax Pacifica“ angebrochen – das asiatisch-pazifische Zeitalter. Die Vereinigten Staaten orientieren sich heute nach Asien, und ich finde das ganz natürlich. Die anstehende Ära gilt als Jahrhundert der Region Asien-Pazifik. Dass ausgerechnet in diesem Jahrhundert, in dem in dieser Region so große Chancen bestehen, Japan seine Kraft verlieren und altern soll, halte ich für große Verschwendung. Japan muss meiner Meinung nach jetzt eine entschlossene Strategie aufstellen, damit es von seiner Position im Osten Asiens und im Westen des Pazifik aus einen aktiven Beitrag für die Erstellung von Regeln im asiatisch-pazifischen Raum leisten kann. Das Durchschnittsalter unserer Bevölkerung liegt derzeit aufgrund der besonderen Bevölkerungsstruktur bedauerlicherweise bei 45 Jahren, und die Alterung schreitet weiter voran. Wenn wir uns aber an der Erstellung der Regeln aktiv beteiligen, haben wir die Möglichkeit, unsere Vitalität zurückzugewinnen.
Morgen werde ich mit dem kanadischen Premierminister Stephen Harper zusammentreffen und mit ihm über die Aufnahme von Verhandlungen für ein wirtschaftliches Partnerschaftsabkommen (EPA) zwischen Japan und Kanada sprechen. Und übermorgen werde ich zum Gipfeltreffen zur nuklearen Sicherheit in Seoul aufbrechen. Zwar kann ich hier nicht ins Einzelne gehen, jedoch wurde in Bezug auf ein Investitionsabkommen zwischen Japan, China und Südkorea praktisch bereits eine Übereinkunft erzielt. Nach diesem Abkommen steht als Nächstes das Freihandelsabkommen (FTA) zwischen diesen drei Ländern auf dem Programm. Ich werde mich dafür einsetzen, diese wirtschaftliche Zusammenarbeit auf hoher Ebene auszuweiten und voranzubringen. Und selbstverständlich rückt dabei auch die Transpazifische Partnerschaft (TPP) immer mehr ins Blickfeld. Im letzten Jahr habe ich angekündigt, dass wir Konsultationen über eine Teilnahme an den Verhandlungen für einen Beitritt zur TPP aufnehmen werden. Derzeit haben sechs der neun Staaten, die bereits Verhandlungen eingeleitet haben, ihre Unterstützung für Japan bekundet. Es fehlen noch die Vereinigten Staaten, Australien und Neuseeland.
Es ist meine Absicht, dass Japan mittels der TPP die Initiative bei der Aufstellung von Regeln für Handel und Investitionen im asiatisch-pazifischen Raum ergreift. Diesem Unterfangen kommt große Bedeutung zu. Gleichzeitig werde ich mich auch mit Blick auf die Zusammenarbeit Japans mit China und Südkorea engagieren. Das Erstellen von Regeln geschah bislang vor allem mit Japan und den Vereinigten Staaten im Mittelpunkt. Nun sollten auch China und Indien dafür gewonnen werden. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Realisierung eines asiatisch-pazifischen Freihandelsabkommens (FTAAP) auch im ureigenen Interesse unseres Landes ist. Derzeit laufen die Konsultationen noch und es ist daher zu früh, eine Prognose zu wagen, jedoch werde ich mich bei der Entscheidung an den Interessen Japans orientieren, auch wenn hier viele Befürchtungen geäußert werden. Diese Befürchtungen und Sorgen kann ich gut verstehen, schließlich bestehen eine ganze Reihe etablierter Interessen. Ich verstehe sie gut, aber wenn wir in unserer jetzigen Situation nicht aufpassen, dann entwickeln sich die Dinge für uns ungünstig. Auch damit wir uns mutig unsere Zukunft erschließen können, müssen wir hier in den Ring steigen und die Diskussion entschlossen führen. Es ist sehr wichtig, dass Regeln aufgestellt werden, die den Interessen unseres Landes dienen.
Es ist ein bisschen schwierig hier deutlicher zu werden, auch weil dies zahlreiche Nachfragen im Haushaltsausschuss des Parlaments nach sich ziehen würde, jedoch bin ich der Auffassung, dass wir in dieser Angelegenheit nicht allzu pessimistisch und zurückhaltend zu sein brauchen. Wenn ich einmal in einem Vergleich die TPP mit den Beatles gleichsetze, dann hätte Japan die Rolle von Paul McCartney inne. Ohne Paul wären die Beatles nicht möglich gewesen. Selbstverständlich wären die Vereinigten Staaten John Lennon. Beide müssen gut miteinander harmonieren. Wenn wir auf diese Weise agieren, dann ist es auch für die anderen Länder von Vorteil, dass Japan sich an der Erstellung der Regeln beteiligt. Ich möchte die Konsultationen unter Berücksichtigung dieses Aspekts weiter vorantreiben.
Es muss viel getan werden, damit es morgen besser sein wird als heute, jedoch ist auch klar, dass die Bevölkerung Japans künftig schrumpfen wird. Ich habe bereits einige Länder angeführt, aber die Bevölkerung Vietnams beispielsweise beträgt heute 90 Mio. Menschen und sie wächst weiter. Und in Myanmar, wo in jüngster Zeit Fortschritte bei der Demokratisierung und auch bei der nationalen Aussöhnung zu beobachten sind, leben 60 Mio. Menschen. In all diesen Ländern wird sich nun eine Mittelschicht herausbilden, und wir dürfen es nicht versäumen, die dadurch entstehende Nachfrage auch für uns zu nutzen.
Damit es morgen besser sein wird als heute müssen wir uns vor allem aber für den Wiederaufbau der vom schweren Erdbeben im Osten unseres Landes betroffenen Gebiete einsetzen. Wir müssen in unserem Denken fest verankern, dass das Morgen in dieser Region besser sein wird als das Heute.
Nach einer verlorenen Wahl war ich für etwa dreieinhalb Jahre ohne offizielle Tätigkeit. In dieser Zeit hörte ich eines Tages während eines Vortrags, den ich ohne besondere Absicht besucht hatte, etwas, was mich tief berührte. Bei dem Vortrag ging es um die Beobachtung der Morgenwinden-Blume (Asagao), eine Aufgabe, die gerne auch Schülern in den Ferien aufgegeben wird. Den Vortrag hielt eine Frau. Sie hatte untersucht, welche Voraussetzungen vor allem erfüllt sein müssen, damit die Morgenwinde frühmorgens besonders schön erblüht. Ich dachte natürlich an Sonnenstrahlen, lag damit aber falsch. Das Wichtigste sind vielmehr die Dunkelheit und die Kälte der Nacht, bevor die Sonne am Morgen aufgeht. Für mich, der ich damals ohne offizielle Beschäftigung war, kam diese Erkenntnis einer Erleuchtung gleich. Hatte ich nicht selbst die Dunkelheit erfahren? Erst wenn man die Dunkelheit kennt, kann man sich auch über jedes noch so schwache Licht freuen. Und erst wenn man Kälte erfahren hat, kann man auch dankbar sein für die Wärme. Diese Erkenntnis hat mich während meiner damaligen „Zeit im Wartestand“ am meisten berührt.
Ich denke, dass heute unter den Menschen in den von der Katastrophe betroffenen Gebieten viele sind, die Kälte sowie Dunkelheit erfahren haben und die sich deshalb nach ein wenig Wärme und Licht sehnen. Unser Land darf dieses Gefühl unter keinen Umständen außer Acht lassen. Glücklicherweise haben zahlreiche Bürgerinnen und Bürger sofort Geld gespendet und viele freiwillige Helfer haben sich auf den Weg in die Katastrophenregion gemacht. Es ist sehr wichtig, dass Japan diese Haltung in eine nachhaltige Entwicklung überführt.
Konkret geht es auch um die Beseitigung der großen Trümmermengen. Die Menge des durch die Katastrophe verursachten Abfalls beläuft sich in der Präfektur Miyagi auf das 19-fache der ansonsten anfallenden jährlichen Abfallmenge. Und in der Präfektur Iwate ist es die 11-fache Menge. Solange diese riesigen Mengen an Trümmern und Abfällen in unmittelbarer Nachbarschaft herumliegen, werden die Menschen dort nicht das Gefühl entwickeln können, dass es morgen ein wenig besser sein wird als heute. Selbstverständlich setzt man sich in den betroffenen Gebieten mit dieser Aufgabe auseinander, und in zahlreichen Kommunen wird dazu aufgerufen, sich gegenseitig zu helfen und zusammenzuarbeiten. Heute sind auch zahlreiche Vertreter aus dem Privatsektor hier anwesend. Wenn Sie über Einrichtungen zur Müllverbrennung verfügen sollten, möchte ich Sie an dieser Stelle ganz herzlich um Ihre Unterstützung bitten.
Nach dem schweren Erdbeben waren viele ausländische Besucher am meisten davon beeindruckt, dass die Menschen in den betroffenen Gebieten ihre Ruhe bewahrten und mit großer Disziplin agierten. Auch die Mitarbeiter der Behörden und privater Hilfsorganisationen haben die Menschen in ihrer schwierigen Lage nach besten Kräften unterstützt. Diese Haltung hat vielen Menschen in den Katastrophengebieten ihre Würde wiedergegeben. Vor dem Krieg hat ein französischer Diplomat einmal gesagt, Japan sei „pauvre“, aber „noble“. Es war die Zeit vor dem Krieg, in der Japan wohl tatsächlich „arm“, aber „edelmütig“ war. Nach dem Krieg sind wir allmählich reich geworden und ich habe überlegt, ob wir unseren Edelmut vielleicht vergessen haben. Er scheint aber tatsächlich in unseren Genen zu stecken, denn er ist immer noch vorhanden. Ich bin davon überzeugt, dass die Unterstützung für die betroffenen Gebiete und das Engagement dafür nicht nur unter wirtschaftlichen Aspekten, sondern auch in geistiger Hinsicht für Japan von großer Bedeutung sind. Selbstverständlich muss die Regierung in vorderster Linie agieren und den Wiederaufbau mit ganzer Kraft vorantreiben.
Ich habe bisher verschiedene Fragen angesprochen: Fragen zur Wirtschaft, zum Verhältnis zur Staatengemeinschaft und zum Wiederaufbau. Alles dies sind Fragen, die wir in Angriff nehmen müssen. Allerdings bin ich der Auffassung, dass, bevor wir diese Aufgaben bewältigen, eine Hürde besteht, die wir zunächst einmal überwinden müssen. Es ist dies eine „umfassende Reform unseres Systems der sozialen Sicherheit und des Steuersystems“. Bei der Wahl zum Vorsitzenden der Demokratischen Partei Japans im August letzten Jahres war ich der einzige unter fünf Kandidaten, der sich eindeutig für die Notwendigkeit einer solchen umfassenden Reform ausgesprochen hat. Ich habe zwar nicht daran geglaubt, dass ich die Wahl gewinne, aber ich habe sie doch gewonnen. Danach habe ich auf der Grundlage meines eigenen Konzeptes einen Entwurf erstellen lassen, der in seinen Grundzügen vom Kabinett verabschiedet wurde. Ich habe die Absicht, diese Grundzüge nun sehr ausführlich diskutieren zu lassen. Die Diskussion innerhalb meiner Partei verläuft derzeit sehr aufgeregt, aber grundsätzlich möchte ich die Diskussion auf der Basis dieser Grundzüge vorantreiben. Auch wenn es hart wird, glaube ich doch nicht, dass die Diskussion so weit geht, dass diese Grundzüge zurückgenommen werden. In ihnen heißt es deutlich, dass ein entsprechender Gesetzentwurf noch in diesem Haushaltsjahr dem Parlament vorgelegt werden soll. Die gründliche Diskussion, die wir dafür führen müssen, findet derzeit statt. Wenn wir den Gesetzentwurf nicht in diesem Haushaltsjahr vorlegen, wäre das gleichsam wie ein Ausscheiden im Halbfinale, bevor wir uns im Finale dann den Beratungen zwischen Regierungsparteien und Opposition im Parlament stellen könnten. Das darf nicht passieren.
Ich habe hier nicht die Absicht, Ihnen die „umfassende Reform des Systems der sozialen Sicherheit und des Steuersystems“ noch einmal in aller Ausführlichkeit zu erklären, weil ich weiß, dass Sie darüber bereits sehr gut Bescheid wissen, jedoch duldet diese Angelegenheit keinen weiteren Aufschub. Insbesondere mit Blick auf die soziale Sicherheit stehen wir vor der Frage, wie wir angesichts des rapiden Wandels der Bevölkerungsstruktur von einer Pyramide hin zu einer auf dem Kopf stehenden Pyramide die Nachhaltigkeit des Systems sicherstellen können. Diese Aufgabe müssen wir rasch in Angriff nehmen. Sowohl bei den Leistungen als auch bei den Beiträgen ist Gerechtigkeit vonnöten. Angesichts des Übergangs hin zu einer Gesellschaft, in der ein Beitragszahler für einen Leistungsempfänger aufkommt, kann ein System der sozialen Sicherheit, das in keinster Weise Sorge für den Beitragszahler trägt, nicht als nachhaltig bezeichnet werden. Bislang gingen die Leistungen vorwiegend an ältere Menschen, während die Beiträge vor allem von der arbeitenden Generation geleistet wurden. Wir müssen aber zu einem System der sozialen Sicherheit kommen, das seine Segnungen auch den berufstätigen Menschen zuteilwerden lässt, etwa in Form einer Unterstützung bei der Erziehung von Kindern. Und auch mit Blick auf die Beitragszahler kann es keine Nachhaltigkeit geben, wenn sich die Finanzierung der sozialen Sicherheit vor allem auf die Versicherungsbeiträge und die Einkommenssteuer der arbeitenden Generation stützt. Zurzeit ist es so, dass nicht nur der berufstätigen Generation, sondern auch künftigen Generationen das Geld aus der Tasche gezogen wird, indem wir immer mehr Schulden in Form von Staatsanleihen machen, um das Defizit auszugleichen.
Auch die Schuldenkrise in Europa ist kein Ereignis, das keine Auswirkungen auf uns hat. Wenn wir überlegen, wie man unter Wahrung der Haushaltsdisziplin die Nachhaltigkeit der sozialen Sicherheit erreichen kann, dann müssen wir die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, dass die Verbrauchssteuer eine stabile Quelle der Finanzierung darstellt. Um eine Gesellschaft zu gestalten, in der es morgen besser sein wird als heute, ist die Nachhaltigkeit der sozialen Sicherheit das beste Mittel, um die Angst vor der Zukunft zu überwinden. Genau das ist es, was unser Land vor allem braucht: die Angst überwinden. Dazu ist vielleicht eine bittere Medizin nötig – eine schmerzhafte Injektion – aber ich bitte die Menschen in unserem Land ganz einfach darum zu verstehen, dass diese Medizin wirklich wirkt. Es ist dies die Politik, die ich unter allen Umständen realisieren möchte.
Im Sommer letzten Jahres gab es in dem britischen Wirtschaftsmagazin „Economist“ einen Artikel, der mich sehr schockiert hat. Die Titelseite dieser Ausgabe schmückte ein Bild von Merkel und Obama. Bundeskanzlerin Merkel im Kimono und mit einer großen Haarnadel in der Frisur und neben ihr Präsident Obama, ebenfalls in japanischer Kleidung. Im Hintergrund ist der Berg Fuji zu sehen. Die Überschrift des Beitrags lautete: „Europa und Amerika japanisieren sich“ und der Untertitel lautete: „Schulden und die Lähmung der Politik“. Der Artikel behandelte den damaligen Streit um die Schuldenobergrenze in den Vereinigten Staaten und das Problem der Staatsschulden in Europa, also die Schuldenkrise, die immer noch nicht vorbei ist. Europa und Amerika hätten die Bewältigung dieser Probleme ständig aufgeschoben und könnten für sie keine Lösung finden. Es gebe dafür bereits ein Land als Vorbild, ein Land, dessen Politik gelähmt sei, das nach dem Zusammenbruch der Bubble Economy keinen klaren Kurs aufgezeigt, sondern die Probleme vor sich hergeschoben habe: Japan.
Es ist mein größtes Anliegen, dass wir uns von einer Politik verabschieden, welche die Dinge, die in Angriff genommen werden müssen, nur vor sich herschiebt. Wir müssen eine Politik verfolgen, die das Verständnis der Bürgerinnen und Bürger anstrebt, auch wenn dies für die Regierungsparteien nicht leicht ist, und wir müssen eine Politik machen, die Entscheidungen trifft. Womöglich wird sich die öffentliche Meinung nicht sofort zu unseren Gunsten wenden. Unter Umständen wird es schwierig werden. Aber wir müssen eine Politik verfolgen, die die öffentliche Meinung anführt. In Japan fürchten sich die Menschen heute vor allem vor Katastrophen – das ist nur zu verständlich – aber auch vor der Krise in Europa, vor Nordkorea, vor Iran … es gibt zahlreiche Krisen, sowohl in Japan selbst, als auch im Ausland. Diese Krisen werden weiterhin bestehen, daher müssen wir uns überlegen, ob wir eine Politik machen wollen, die selbst urteilt und dann Entscheidungen trifft.
Ich habe hier als Letztes über die umfassende Reform gesprochen, weil dies das Thema ist, das für eine Politik steht, die Entscheidungen trifft. Wenn es uns nicht gelingt, zu einer Entscheidung zu kommen und die Politik entsprechend voranzutreiben, dann hat meine Regierung ihre Existenzberechtigung verloren. Ich werde mit großer Entschlossenheit und unter Einsatz meines politischen Lebens dieses Problem in Angriff nehmen und innerhalb der jetzigen Sitzungsperiode des Parlaments zum Abschluss bringen. Ich versichere Ihnen, dass ich mich dafür mit meiner ganzen Kraft einsetze und möchte damit meinen einleitenden Vortrag schließen. Ich sehe nun Ihren offen vorgetragenen Meinungen und Ratschlägen entgegen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.