Am 22. Juli besuchte Premierminister KISHIDA Fumio in Tokyo die Zusammenkunft des Reiwa-Bürgerrats. Dieses im Juni 2022 ins Leben gerufene Gremium befasst sich mit drängenden Aufgaben, vor denen die Gesellschaft in Japan aktuell steht. „Reiwa“ ist der Name der Ära, die mit der Thronbesteigung des neuen Kaisers im Jahr 2019 begann. Daran lehnt sich der Name des Bürgerrats mit der Abkürzung „Reinventing Infrastructure of Wisdom and Action“ (ReIWA) an. Rund einhundert Expertinnen und Experten aus allen Bereichen der Gesellschaft wurden im Rahmen eines ehrenamtlichen Engagements in dieses Gremium berufen, um über die Grenzen von Generationen, Parteien und unterschiedlichen Positionen hinweg im Austausch mit Vertretern aus Politik, Verwaltung, Medien und weiteren gesellschaftlichen Akteuren Lösungswege für schwierige Aufgaben aufzuzeigen, vor denen Japan als Ganzes steht. Um die dafür erforderlichen Reformen voranzutreiben, engagiert sich der Bürgerrat für eine breite öffentliche Diskussion sowie für eine Konsensbildung. Anlässlich des Abschlusses des ersten Jahres der Aktivitäten dieses Gremiums hielt Premierminister Kishida zu Beginn der Zusammenkunft das folgende Grußwort.

Bild: Premierminister Kishida bei der Begrüßung der Mitglieder des Reiwa-Bürgerrats (Foto: Cabinet Public Affairs Office)
„Sehr geehrte Anwesende,
für die Einladung zu dieser Zusammenkunft anlässlich des einjährigen Bestehens des Reiwa-Bürgerrats möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Ich empfinde es als eine große Ehre, die Gelegenheit erhalten zu haben, hier vor führenden Vertretern aus allen Bereichen der japanischen Gesellschaft zu sprechen.
Wenn man noch einmal auf das vergangene Jahr zurückblickt, dann gab es den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, den Kampf gegen Corona, den weltweiten Preisanstieg sowie die Energiekrise, den Halbleitermangel und darüber hinaus die Störungen innerhalb der globalen Lieferketten. All diese Krisen, von denen es hieß, dass sie nur einmal in einigen Jahrzehnten vorkämen, traten nun eine nach der anderen kurz hintereinander auf. Diese Herausforderungen wurden mit ganzer Kraft in Angriff genommen – ich denke, dies beschreibt zutreffend das Gefühl des vergangenen Jahres. Dass diese gravierenden Ereignisse in schneller Folge auf uns einstürmten, liegt meiner Ansicht nach darin begründet, dass wir sowohl im Bereich der Wirtschaft als auch innerhalb der internationalen Gemeinschaft an einen historischen Wendepunkt angelangt sind. Dieser Auffassung haben beim G7-Gipfeltreffen, das im Mai in Hiroshima stattfand, auch die teilnehmenden Staats- und Regierungschefs als selbstverständliche Voraussetzung der dort geführten Diskussion einmütig zugestimmt, was wirklich beeindruckend war.
Angesichts dessen habe auch ich persönlich als Richtschnur für mein Wirken als Premierminister die Aufgaben, die keinen Aufschub dulden, direkt in Angriff genommen und für jede einzelne von ihnen Antworten aufgezeigt. Damit erfüllen wir unsere Pflicht, an diese Dinge mit dem Bewusstsein heranzugehen, dass es sich hierbei um unsere historische Bestimmung handelt. Auf der Grundlage dieser Auffassung habe ich mich mit den verschiedenen Aufgaben befasst. Da die Dauer dieses Grußworts begrenzt ist, möchte ich hier nur drei Punkte anführen. Dies sind Wirtschaft, Außenpolitik sowie die japanische Gesellschaft.
Was den ersten Punkt, die Wirtschaft, anbelangt, so denke ich, dass der Schlüsselbegriff hierfür Nachhaltigkeit lautet. Innerhalb der heutigen Welt und Staatengemeinschaft als Ganzes muss angesichts von Aufgaben wie der gesellschaftlichen Spaltung oder des Klimawandels nach einem neuen Modell für einen nachhaltigen Kapitalismus gesucht werden. Der Kapitalismus kann diese Spaltung nicht aufheben, wenn man alles nur den Märkten, dem Wettbewerb und der Markteffizienz überlässt. Hierfür werden überall auf der Welt verschiedenste Anstrengungen unternommen. Dazu zählt auch der von mir vorgeschlagene neue Kapitalismus, bei dem Investitionen in die Menschen sowie Aufgaben wie der Klimawandel zu einem Motor für Wachstum werden. Indem wir zwei Ziele gleichzeitig verfolgen, erreichen wir die Lösung dieser Aufgaben sowie Wachstum und unterstützen so die Nachhaltigkeit. Mit diesen beiden Ansätzen als Pfeiler wurden die Maßnahmen in Bezug auf die Wirtschaft von meiner Regierung weiter vorangetrieben.
Tatsächlich ist es im Rahmen dieses Engagements zu positiven Entwicklungen gekommen. Beispielsweise gab es nun die höchsten Lohnzuwächse seit dreißig Jahren, Investitionen im Inland von über 100 Billionen Yen oder die höchsten Börsenkurse seit 33 Jahren. Ich denke, dies ist ganz offensichtlich. Allerdings ist es nun wichtig zu sehen, ob diese Entwicklungen weitergeführt werden können oder nicht. Um Investitionen in die Menschen mit Konsum und als nächsten Schritt mit Wachstum zu verknüpfen, wird ein positiver Kreislauf zur Verteilung des Wachstums realisiert. Investitionen in die Menschen kommt meiner Meinung nach eine sehr große Bedeutung zu. Aber sind wir auch in der Lage, diese Investitionen in die Menschen weiterzuführen? U. a. durch die Umsetzung einer Reform in dreifacher Weise werden wir diese Investitionen in die Menschen mit strukturellen Lohnerhöhungen sowie mit nachhaltigen Investitionen in die Menschen verknüpfen. Dies ist der entscheidende Punkt. Zudem verwandeln wir verschiedenste Aufgaben für Investitionen, etwa die Aufgabe des Klimawandels, in einen Motor für Wachstum. Auch in Bezug auf dieses Engagement ist heute weltweit eine Situation entstanden, die man als Wettbewerb der besten Ideen bezeichnen kann. In den Vereinigten Staaten werden im Rahmen des „Inflation Reduction Act“ umfangreiche Investitionen – gemessen am Produktionsvolumen – für den Zeitraum von zehn Jahren getätigt. Und in der Europäischen Union werden im Rahmen des „Net Zero Industry Act“ im Zeitraum von zehn Jahren vom öffentlichen und privaten Sektor zusammen gewaltige Investitionen in Höhe von 140 Billionen Yen umgesetzt werden. Auch in Japan werden auf der Grundlage des Konzepts der Kohlendioxid-Bepreisung für mehr Wachstum Investitionen im Umfang von 150 Billionen Yen von öffentlicher und privater Seite getätigt werden. Dieses Konzept wurde nun in Angriff genommen. Auf diese Weise engagieren wir alle uns für die Aufgabe, einen Motor für Wachstum durch Investitionen in die Menschen sowie durch die Lösung von Aufgaben zu verwirklichen. Wird es uns gelingen, diese weltweite Entwicklung fortzusetzen? Ich denke, dies bleibt eine wichtige Aufgabe.
Nun komme ich zum zweiten Punkt, der Außenpolitik. Den Schlüssel in diesem Bereich bildet meiner Auffassung nach die Frage, ob es uns gelingen wird, die Entwicklung hin zu Konfrontation und Spaltung umzukehren und wieder in Richtung Kooperation zurückzuführen. Heute wird innerhalb der Staatengemeinschaft darauf verwiesen, dass sich der Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und China immer weiter verschärft. Gleichzeitig ist es durch den Angriff Russlands auf die Ukraine zu einer tiefen Konfrontation zwischen Russland und den westlichen Staaten gekommen. Und mittendrin existieren die neutralen Staaten des sogenannten globalen Südens als größter Machtfaktor. Inmitten dieser Struktur überfällt ein Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen sein Nachbarland. Wie kann angesichts dieser Situation die internationale Ordnung bewahrt werden? Dies erfordert eine umfassende Diskussion. Es ist zu fragen, ob sich die internationale Gemeinschaft erneut um eine grundlegende Idee versammeln kann und ob alle diese Idee noch einmal bekräftigen können. Und dann ist zu fragen, ob es, angefangen bei den Vereinten Nationen, gelingt, erneut ein internationales Forum für den Austausch zu errichten. Ich denke, alles hängt von diesen beiden Punkten ab.
Auch beim G7-Gipfel von Hiroshima im Mai waren sich nicht allein die G7, sondern auch neutrale Staaten wie Indien, Brasilien oder Indonesien – auch im Beisein des führendes Vertreters der Ukraine – darüber einig, dass sie sich unter der Idee einer auf dem Recht basierenden freien und offenen internationalen Ordnung versammeln und hierfür zusammenwirken. Ich denke, dass dieses Ergebnis erzielt wurde, ist von historischer Bedeutung. Zusammen damit haben auch in Bezug auf die Reform des Sicherheitsrats selbst die Vereinigten Staaten, die in dieser Frage bislang eher zurückhaltend waren, sich dazu entschlossen, dieses Problem in Angriff zu nehmen. Bereits zuvor hat Japan sich gemeinsam mit Indien, Brasilien und Deutschland für eine solche Reform engagiert, und unter den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats zeigt sich auch Frankreich bei dieser Frage aufgeschlossen. Auch die afrikanischen Staaten haben ihre diesbezüglichen Überlegungen bereits früher deutlich gemacht. Wir haben nun einen Punkt erreicht, an dem diese Diskussion in konkretes Handeln übersetzt werden muss. Nicht nur im Sicherheitsrat, auch sonst in den Vereinten Nationen, etwa bei der Generalversammlung oder der Rolle des Generalsekretärs, kommt meiner Meinung nach einer Reform dieser Organisation inmitten der aktuellen Situation, wo von der Krise einer Spaltung der Staatengemeinschaft gesprochen wird, eine außerordentliche Bedeutung zu.
Und schließlich der dritte Punkt, die Gesellschaft. Was die Diskussion in Bezug auf diesen Bereich anbelangt, lautet der Schlüsselbegriff in der Tat demografischer Wandel. Um diese gesamtstaatliche Aufgabe in Angriff zu nehmen, kommt einem Engagement eine besondere Bedeutung zu, bei dem Maßnahmen gegen den Geburtenrückgang einer völlig neuen Dimension sowie eine Reform hin zu einer digitalen Gesellschaft die beiden Räder eines Gefährts bilden, um einen Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft zu erreichen. Ich denke, auch diesem Engagement kommt eine große Bedeutung zu.
In den 2030er Jahren wird sich der Rückgang der Bevölkerung in Japan – und hier insbesondere das Tempo des Rückgangs der jungen Bevölkerung – erheblich beschleunigen. Folglich heißt es fortwährend, dass bis 2030 eine Lösung gefunden werden muss. Angesichts dieses Gefühls der Dringlichkeit müssen nun Maßnahmen für das Aufziehen von Kindern in einer ganz neuen Dimension vorangetrieben werden. Es gibt unterschiedlichste Unterstützungsleistungen, angefangen beim Kindergeld. Diese verschiedenen Unterstützungsmaßnahmen und Systeme müssen weiter optimiert werden. Dies wurde bereits verschiedene Male unternommen, aber um dieses System wirklich zu erneuern und es optimal zu handhaben, muss sich auch das Bewusstsein der Gesellschaft selbst ändern. Es müssen sowohl die Hilfen und Systeme als auch das Bewusstsein reformiert werden. Indem wir den Start einer die ganze Bevölkerung umfassende Bewegung anstreben, ist nach Beendigung der heutigen Zusammenkunft dieses Bürgerrats geplant, dass auch die Regierung eine die Bevölkerung als Ganzes ergreifende Bewegung ins Leben ruft.
Zusammen mit diesen Maßnahmen zur Unterstützung des Aufziehens von Kindern muss auch an die Aufgabe der digitalen Gesellschaft gedacht werden. Ob smarte Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft oder die digitale Transformation im Bereich Tourismus, ob Telemedizin, Fernunterricht oder die Herausforderung der Kreativität der Regionen, die für viele unserer Vorgänger eine große Aufgabe darstellte – alle diese Aufgaben, die nur schwer zu bewältigen waren, können nun dank der Potenziale der Digitalisierung gemeistert werden. Aus diesem Grund haben wir die „Digitale Gartenstadt-Vision“ ins Leben gerufen. Infolge des Bevölkerungsrückgangs können Dienstleistungen, die bisher innerhalb der Verwaltung und auch innerhalb der Wirtschaft geleistet wurden, womöglich nicht aufrechterhalten werden. Auch angesichts dieser Krise werden, wenn wir einen Blick auf die Regierungen weltweit werfen, die Bedürfnisse der Menschen immer vielfältiger und komplizierter. Indem wir darauf reagieren müssen, ist jedoch die Tendenz zu beobachten, dass die Regierungen vom Umfang her immer größer werden.
Ist es angesichts dessen möglich, erneut eine große Regierung von kleinem Umfang zu schaffen? Dies ist meiner Meinung nach die entscheidende Frage, und sie stellt ein sehr wichtiges Problembewusstsein dar. Groß und gleichzeitig klein, das klingt zunächst widersprüchlich, aber kurz gesagt bedeutet dies eine Regierung, die effizient und in der Lage ist, große Aufgaben zu bewältigen. Wo es bisher die Zentralregierung gab, darunter die Ebene der Präfekturen sowie unter dieser wiederum die Kommunen, und die Verwaltungsstrukturen so ausgerichtet waren, dass oben entschieden und unten ausgeführt wurde, muss künftig die Regierung im ganzen Land die grundlegende digitale Infrastruktur mit 5G, Unterwasser- und Glasfaserkabeln einrichten und darüber hinaus über die Kommune, in der die Menschen vor Ort leben, die Verwaltungsdienstleistungen bereitstellen, mit denen die Regierung den Menschen zur Seite steht. Dies wird dann mit den Präfekturen verknüpft werden. Über eine solche Verwaltung und eine derartige digitale Verwaltungs- und Finanzreform müssen wir nachdenken – und zwar auch unter dem Schlüsselbegriff des demografischen Wandels.
Ich habe hier kurz über die Aufgaben in Wirtschaft, Außenpolitik und Gesellschaft mit den jeweiligen Schlüsselbegriffen im Mittelpunkt gesprochen und mich dabei auf das Wichtigste beschränkt. Ich weiß, dass auch heute wieder unterschiedlichste Fragen an mich gerichtet werden. Bitte vertiefen Sie die Diskussion untereinander zu den Punkten, die ich heute hier nur kurz anreißen konnte.
Vielen Dank.“