
Japan im Buch
"Gäbe es keine Kirschblüten ...
- Tanka aus 1300 Jahren"
(Philipp Reclam jun., Stuttgart)
Dass diese zweisprachige Anthologie japanischer Gedichte in der klassischen Form des aus 31 Silben in 5 Versen bestehenden Tanka im März 2009 im Reclam-Verlag erscheinen konnte, ist dem engen Zusammenwirken zwischen dem bekannten japanischen Dichter Prof. Yukitsuna Sasaki, dem Übersetzer Prof. Eduard Klopfenstein und der in Deutschland lebenden Dichterin Masami Ono-Feller zu verdanken.
Prof. Sasaki, der die 100 in den vorliegenden Band aufgenommenen Tanka auswählte und kommentierte sowie auch die Anmerkungen und Erläuterungen verfasste, lehrte bis zum Frühjahr dieses Jahres an der Waseda-Universität. Zugleich ist er der Entdecker und Förderer der Dichterin Machiko Tawara, die mit ihrem Gedichtband Sarada kinenbi in Japan über Nacht berühmt wurde. Auch wenn Frau Tawara in Deutschland eher unbekannt sein dürfte, haben ihre Gedichte, die sie 1987 als Lehrerin an einer Oberschule veröffentlichte, eine unvergleichliche Leichtigkeit, die zahlreiche Menschen bewegt. Ihre Anthologie bereitete den Weg für einen plötzlichen Boom des mündlichen Tanka-Dichtens und war ein außerordentlicher Bestseller. So wurde auch das folgende Gedicht von Tawara in den vorliegenden Band aufgenommen:
„Kalt ist’s heute!“
sag ich, und zurück kommt
„Kalt ist’s heute!“
... diese Wärme, dass da
einer ist, der Antwort gibt!
Neben seiner Lehrtätigkeit fungierte Prof. Sasaki auch als Herausgeber der Tanka-Zeitschrift „Kokoro no hana“, die bereits sein Großvater ins Leben gerufen hatte. Zudem ist er für die Auswahl der Gedichte in der Lyrik-Kolumne der größten japanischen Tageszeitung Asahi Shinbun verantwortlich, die jede Woche rund 3000 Einsendungen erhält. In der westlichen Gesellschaft hat die Lyrik in enger Anbindung an die Musik eine rasante Entwicklung beschrieben, um als Literaturform heute eher weniger im Rampenlicht zu stehen. (Nichtsdestotrotz gibt es Menschen - man denke nur an Goethe oder Rilke - die zugleich Literaten und Dichter sind!) Im Gegensatz dazu hat in Japan die Lyrik bis heute im Alltag der Menschen einen festen Platz, und sie erfreut sich größter Beliebtheit. Dies belegen etwa das traditionelle Karuta-Spiel zu Neujahr, bei dem alte Gedichte aufgesagt werden, die im Januar stattfindende Gedichtveranstaltung im Kaiserpalast oder die Kolumnen für Gedichte, die in allen Tageszeitungen des Landes zu finden sind.
Im Mai dieses Jahres besuchte Prof. Sasaki erstmals Berlin, um in der Mori-Ogai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität (Mori Ogai war übrigens Gast im lyrischen Salon des Großvaters von Prof. Sasaki gewesen und hatte bei ihm das Dichten von Tanka gelernt!) im Rahmen einer Lesung Tanka zu rezitieren und zugleich über das ausgeprägte Gefühl der Menschen in Japan für Jahreszeiten, ihre Sicht des Friedens, der zwischenmenschlichen Beziehungen sowie der Vergänglichkeit zu referieren. So zitierte er, um das Wesentliche an Tanka aufzuzeigen, aus der im Jahre 905 zusammengestellten Gedichtsammlung Kokinwakashu: „Was, ohne Gewalt anzuwenden, Himmel und Erde bewegt, die den Augen nicht sichtbaren Geister und Gottheiten zu Mitgefühl rührt, die Beziehungen zwischen Mann und Frau noch zärtlicher macht und auch das Herz des ungestümen Kriegers besänftigt, das ist das Gedicht.“ Laut Prof. Sasaki ist es schwierig, selbst ein wirkliches Meisterwerk zu schaffen oder einem solchen Gedicht auch nur zu begegnen. Nichtsdestotrotz fand auch eines seiner eigenen Werke, mit dem er relativ zufrieden ist, Aufnahme in den vorliegenden Band:
Der Kleine blickt
zu mir als seinem Vater auf
O könnte ich
vor ihm erscheinen als ein
„Goldener Löwe“
Der Übersetzer des Bandes, Prof. Klopfenstein war bereits an den „Wannsee-Kettengedichten“ und der „Strickleiter in der Fasanenstraße“ des Dichters Makoto Ooka (beide Anthologien erschienen auf Japanisch im Verlag Iwanami) beteiligt. Auch mit den Augen eines Laien betrachtet sind die Übersetzungen sehr eingängig und leicht zu lesen. Die Wortwahl zeugt von gutem Gespür und auch die einzelnen Verse zeigen eine gut passende Einteilung. Dass Übersetzungen stets auch die Zeit ihrer Entstehung widerspiegeln, zeigte die stellv. Leiterin der Mori-Ogai-Gedenkstätte, Frau Wonde, mit dem Gegenüberstellen der Übersetzungen eines Tanka der Kaiserin Jito aus der alten Sammlung „Hundert Gedichte von hundert Dichtern“, die auch als Kartenspiel zu Neujahr verwendet wird.
Vorüber ist der Lenz
Der Sommer scheint gekommen
Denn nach altem Brauch
Bleichen am Berg Amanokagu
Nun wieder weiße Gewänder(Übersetzt von Prof. Jürgen Berndt, 1933-1993)
Vorüber der Frühling
So scheint es - der Sommer ist da:
blendend weiße
Gewänder zum Trocknen gehängt
Am Himmelsberg Kagu(Übersetzt von Prof. Eduard Klopfenstein, geb. 1938)
Abschließend noch ein paar kurze Bemerkungen zu Frau Masami Ono-Feller, ohne deren großes Engagement der vorliegende Band wohl nicht erschienen wäre. Eigentlich Expertin für Patentrecht, heiratete sie in Deutschland und zog hier zwei Kinder groß, während sie sich gleichzeitig intensiv mit japanischer Lyrik beschäftigte. Anlässlich eines Besuchs der Frankfurter Buchmesse wandte sie sich entschlossen unmittelbar an die dort anwesenden Vertreter des Reclam-Verlags. (Die Reclam-Reihe diente übrigens als Vorbild für die 1927 entstandene Taschenbuchreihe des Verlags Iwanami, dem damit eine Vorreiterrolle innerhalb der japanischen Verlagsgeschichte zukommt. Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass auch in Japan jeder Gebildete die kleinen Hefte dieses angesehenen deutschen Verlags kennt.) Es war der großen Energie von Frau Ono-Feller zu verdanken, dass schließlich nach eineinhalbjähriger Vorbereitungszeit dem Verlag eine Auswahl an Tanka für das deutsche Publikum vorgelegt werden konnte. Zugleich gelang es ihr auch noch, Prof. Sasaki zu einer Vortragsreise in die Schweiz und nach Deutschland zu überreden.
Es wäre mir eine große Freude, wenn der Gedichtband „Gäbe es keine Kirschblüten ... - Tanka aus 1300 Jahren“, dessen Umschlag ein Holzschnitt von Hokusai ziert, von möglichst vielen Lesern einmal in die Hand genommen würde, und der eine oder andere beim Durchblättern dazu angeregt würde, ein eigenes Tanka zu verfassen.
*M.M. (Diese Rezension stellt eine individuelle Meinung dar und vertritt nicht die offizielle Haltung der Botschaft von Japan)