
Regionen Japans - vorgestellt von Teilnehmern des JET-Programms
Im Auge des Taifuns
Jedes Jahr Anfang August machen sich junge deutsche Hochschulabsolventen auf den Weg nach Japan, um sich für die Internationalisierung Japans zu engagieren. Dies geschieht im Rahmen des Japan Exchange and Teaching (JET) Programms, mit dem jährlich ca. 4500 junge Menschen aus fast 40 Ländern hauptsächlich als Assistenz-Sprachlehrer in Schulen arbeiten bzw. in Rathäusern oder Präfekturverwaltungen außerhalb der Ballungszentren im Bereich Internationale Beziehungen assistieren.
Zurzeit arbeiten zwei Assistenz-Deutschlehrerinnen und 11 deutsche KoordinatorInnen für Internationale Beziehungen (CIR) in Japan. Inzwischen gibt es aber auch bereits 244 ehemalige deutsche TeilnehmerInnen am JET-Programm.
Bis dato haben aktuelle und ehemalige deutsche TeilnehmerInnen für NaJ ihr Leben als JET und ihre Aufgaben und Erlebnisse beschrieben - z.T. direkt von vor Ort, z.T. aus der Rückschau.
Nun sollen in diesen Berichten schwerpunktmäßig ihre Einsatzregionen vorgestellt werden. Diesen Monat berichtet Annegret Wielandt über die Insel Miyako im Süden der Präfektur Okinawa, auf der sie von 2001 bis 2004 als CIR tätig:
Die Vorwarnungen kamen bereits früh. Es hieß, er zöge schnurstracks von Richtung Südosten auf uns zu und er sei groß, größer und stärker als alle Taifune, die es in den Jahren zuvor geschafft hatten, die Insel Miyako im Süden der Präfektur Okinawa zu erreichen. Wir schreiben den 10. September des Jahres 2003 und auf Miyako gibt es zu der Zeit noch den südlichsten Posten eines Koordinatoren für Internationale Beziehungen, auf den ein/e Deutsche/r entsandt werden konnte. Anlass für dessen Einrichtung waren die bereits 1873 angebahnten Kontakte zu Deutschland (ein deutscher Handelsschoner auf dem Weg nach Australien war durch einen Taifun vom Kurs abgetrieben und auf den Korallenriffen vor der Insel zerschellt, wobei 8 Besatzungsmitglieder unter dramatischen Umständen gerettet und wohlbehalten in die Heimat zurückgeschickt werden konnten) und der eingedenk dieser Geschichte 1989-93 errichtete Themenpark „Deutsches Kulturdorf Ueno“.
Taifune haben also stets das Leben und den Rhythmus auf Miyako beeinflusst und die Inselbewohner haben sich daran gewöhnt. Besonders in den Monaten Juli bis Oktober treten diese Tropenstürme häufig auf, im Schnitt sind es in der Pazifik-Region 26,7 pro Jahr. Das Klima auf der Insel ist subtropisch, d.h. die Jahreszeiten sind nicht sehr stark ausgeprägt. Immergrüne Vegetation und im Winter eine maximale Abkühlung der Außentemperaturen auf milde 10°C machen das Leben im Grunde sehr angenehm. Aber die stete Gefahr der Stürme hat das äußere Erscheinungsbild der topographisch sehr flachen Insel geprägt (die höchste Erhebung liegt 125m über dem Meeresspiegel). Es gibt auffällig wenige große, geschweige denn alte Bäume, und die für die Region Okinawa ursprünglich so typischen traditionellen Häuschen mit ihren tief gezogenen, Ziegel gedeckten Walmdächern, die ein malerisches Postkartenmotiv abgeben könnten, sind nahezu verschwunden. Sie waren zu anfällig für Reparaturen und damit in der Unterhaltung zu kostspielig. Durchgesetzt haben sich hingegen pragmatische Flachdachbauten aus Stahlbeton, die ab und an lediglich durch einen neuen Anstrich verschönert werden müssen.
Die Wohnanlage, in dessen 2. Stock ich damals wohnte, war ebenfalls aus diesem Material errichtet, obwohl sie optisch die Architektur von deutschen Fachwerkhäusern imitierte. Sie lag integriert in die Gesamtanlage des Deutschen Kulturdorfs Ueno mit der Schauseite Richtung Meer, lediglich 200m von der Küste entfernt. Diese Lage sollte für alle Bewohner während des starken Taifuns Nr. 14, genannt „Maemi“, im September 2003 besondere Schwierigkeiten mit sich bringen.
Nachdem uns die einschlägigen Vorwarnungen des Wetterdienstes am Vormittag des 10. September am Arbeitsplatz in der Ortsverwaltung Ueno erreicht hatten, wurde ohne weitere Verzögerung die ganze Belegschaft dafür eingespannt, das Dienstgebäude „sturmsicher“ zu machen. Die Schiebefenster und -türen wurden in bewährter Weise mit Zeitungspapier abgedichtet, lose Gegenstände und Gerätschaften auf dem Gelände ins Innere des Gebäudes transportiert. Anschließend wurden wir bis auf Weiteres nach Hause entlassen, um dort nach dem Rechten zu sehen und das Haus zu hüten. Bereits seit meinen ersten Wochen auf der Insel war ich dazu angehalten worden, stets eine größere Menge von Batterien, Kerzen und unverderblichen Lebensmitteln für solche Fälle auf Vorrat zu haben. Nun würde ich sie wohl brauchen. Ab Nachmittag um 15.00 Uhr nahm der Wind ums Haus spürbar zu und Regen setzte ein. Die Kraft des Windes ließ die Fenster meines Appartements permanent erzittern und erzeugte einen ohrenbetäubenden Lärm. Immer wieder ließen mich beunruhigende Geräusche vom einen zum anderen Fenster der Wohnung patrouillieren, um mich zu vergewissern, ob die Zeitungsabdichtungen, die ich auch bei meinen Fenstern in die Führungsrillen gestopft hatte, standhielten. An einen Genuss des ungewollt arbeitsfreien Tages war jedenfalls nicht zu denken. Trotzdem versuchte ich, mich durch Lesen abzulenken. Allerdings ertappte ich mich dabei, dass ich mehrmals meine Stellung innerhalb des Zimmers wechselte, um im Falle eines berstenden Fensters nicht von Glassplittern getroffen zu werden. Bei abnehmendem Tageslicht sah ich, dass das Meer eine grün-graue Farbe angenommen hatte und hohe Wellen und Gischt auftürmte. Verschiedene Gegenstände, Äste und Blätter wurden bereits ums Haus gewirbelt.
Gegen 21.00 Uhr nahm das Getöse ums Haus immer bedrohlichere Züge an und ich sah mich plötzlich mit einem ganz prekären Problem konfrontiert: unter dem breiten Wohnzimmerfenster quoll eine große Menge Wasser hervor und ergoss sich wasserfallartig ins Innere auf den Holzboden. In wenigen Augenblicken hatte sich eine 2 m² große Lache gebildet. Da hieß es schnell handeln. Trotz des Sturmes rannte ich eine Treppe tiefer zu den Nachbarn, um Hilfe zu holen. Der Wohnungseingang lag günstiger Weise im Windschatten, sodass ich überhaupt in der Lage war, die Eingangstür zu öffnen und die Wohnung zu verlassen. Nachdem ich mich erst mühsam bemerkbar gemacht hatte, reagierten die beiden Männer der unten wohnenden Nachbarsfamilien schnell. Geistesgegenwärtig halfen sie mir, alle elektrischen Geräte aus der Phonoecke am Fenster abzumontieren und das Sofa außer Reichweite des Wassereinbruchs zu transportieren. Einer von ihnen versuchte noch, das einströmende Wasser in einen Eimer umzulenken, dann war ich auch schon wieder mir selbst überlassen.
Die Konstruktion der mit Klebeband an die Wand geklebten Plane hielt allerdings keine 10 Minuten und so blieb mir nichts anderes übrig, als dabeizubleiben und das Wasser mittels Handtüchern aufzuwischen. Ich kann nicht mehr einschätzen, wie viele Liter Wasser ich auf diese Weise beseitigen musste, ich weiß nur, dass mein Kampf insgesamt fast 10 Stunden gedauert hat. Es waren drei große Intervalle, in denen das Wasser kam, dazwischen gab es ein wenig Erholung. Während der ganzen Zeit war an ein Öffnen der Schiebefenster, um der Ursache des Übels nachzugehen, nicht zu denken. Etwa 3.00 Uhr nachts hatte uns mit einer Windstärke von 74,1 m/s der Höhepunkt des Taifuns erreicht. Schließlich waren die Hände wund vom Kontakt mit den nassen Handtüchern und ich hatte keine Kraft mehr zum Wringen. Einzig das Gefühl von ohnmächtiger Wut und eine Filmmelodie von Ennio Morricone, die ich wie eine gebrochene Schallplatte endlos vor mich hinsummte, ließen mich meine schmerzhafte Tätigkeit rein mechanisch fortsetzen. Der Strom war mittlerweile längst ausgefallen. Als der Wind schließlich etwas nachließ und es draußen hörbar ruhiger wurde, muss ich in unruhigen Schlaf gefallen sein. Als ich wieder wach wurde, war es draußen bereits hell und ich konnte mir von dem Ausmaß der Zerstörung um unser Haus herum vom Fenster aus ein ungefähres Bild machen. Im Deutschen Kulturdorf hing kein Blatt mehr an den Bäumen, einige waren komplett entwurzelt, viele Äste abgebrochen. Ziegel lagen auf dem Hof und der Getränkeautomat vor dem Souvenirladen unten im Erdgeschoss lag auf die Seite geworfen einige Meter von seinem ursprünglichen Aufstellungsort entfernt.
Endlich konnte ich auch das betroffene Fenster auf der Windseite einige Zentimeter aufschieben und der Ursache des Wassereinbruches nachgehen. Der Grund war sofort gefunden. Vor dem Fenster befindet sich ein kleiner Balkon, der eigens dafür da ist, das Ventilatorgerät der Klimaanlage zu tragen. Der Balkon hatte sich jedoch bis zur Oberkante mit Wasser gefüllt, weil sich die zwei kleinen Abflusslöcher im Nu durch herbei gewirbelte Blattfetzen und Unrat zugesetzt hatten. Peitschender Wind sowie zusätzlich auf die Scheiben prasselnder Regen hatten also leichtes Spiel, in großen Mengen Wasser nach Innen zu drücken. Aber ich hatte Glück im Unglück, dass wenigstens alle Fensterscheiben intakt geblieben waren. Wie sich später herausstellte, hatten meine Nachbarn in ihrem Haus weniger Glück, da der Eingang zu ihrer Wohnung auf der Wetterseite lag. Ihre Eingangstür war während des Sturms zu Bruch gegangen und ihnen war nichts anderes übrig geblieben, als den Eingang mittels Schiebetüren abzudichten und sich mit der eigenen Körperkraft dagegen zu stemmen. Eine andere Nachbarin hatte ebenfalls mit starkem Wassereinbruch zu kämpfen, den Kampf aber bald aufgegeben. Infolge dessen war Wasser in den Zwischenboden gelaufen und hatte im Laden unter der Wohnung starke Folgeschäden verursacht. Die Feuerwehr musste später anrücken und den Zwischenboden leer pumpen.
Erst gegen 17.00 Uhr des 11. September flaute der Sturm endlich ab und die Bestandsaufnahme konnte beginnen. Jeder im Bekanntenkreis hatte irgendein bewegendes Erlebnis zu erzählen. Die Landschaft sowie die für die Region als landwirtschaftliche Einnahmequelle so wichtigen Zuckerrohrfelder sahen übel zugerichtet aus. Mangoplantagen, Gewächshäuser, Kuhställe: Vieles war stark beschädigt oder zerstört. Gebäude hatten unzählige Schäden erlitten, wie z.B. die örtliche Turnhalle, in deren Dach der Sturm große Löcher gerissen hatte, und deren Holzboden durch das eingedrungene Wasser unbrauchbar geworden war, oder das Brüderlichkeits-Gedächtnis-Museum im Deutschen Kulturdorf (ein maßstabsgetreuer Nachbau der Marksburg vom Rhein), von dessen teurer Dachverkleidung aus Schiefertafeln der Wind große Teile weggerissen hatte. Vor allem aber hatte der Taifun einen Großteil der elektrischen Leitungen auf der Insel unterbrochen, hunderte von Strommasten wie Streichhölzer umgeknickt und teilweise ganz zerstört. Glücklich war, wer für so einen Fall einen eigenen Stromgenerator gebunkert hatte. Es sollte eine Woche dauern, bis auf Miyako alle Haushalte wieder mit Strom versorgt werden konnten. Problem war vor allem, dass so viele neue Strommasten erst einmal mit großem Zeitaufwand per Schiff von der 300 km entfernten Hauptinsel Okinawa herbeigeschafft werden mussten.

Man tat also gut daran, alle verderblichen Lebensmittel im Kühlschrank möglichst schnell zu verarbeiten. Es war nun ein großer Vorteil, dass die Haushalte auf der Insel weitestgehend noch mit Gas kochten. Man machte jedenfalls das Beste aus der Situation und die gegenseitige Hilfsbereitschaft war bemerkenswert. Spontan lud ich alle Kinder in der Nachbarschaft zu einer Eiscremeparty ein und rettete damit meine Eisvorräte vor der Mülltonne. Die Atmosphäre nach dem Taifun war trotz der für mich glimpflich abgelaufenen Strapazen aber keineswegs angenehm. Eine hohe Feuchtigkeit bei warmen Temperaturen und wenig Luftzirkulation sorgten dafür, dass die Lebensmittel schnell verdarben und nichts richtig trocknen wollte. Überall hatten die Menschen Tatami und Wäsche zum Trocknen vor die Häuser in die Sonne geschafft. Noch mehrere Tage nach dem Sturm hatte man den unangenehm säuerlichen Geruch von verrottenden Pflanzenteilen und Meerwasser in der Nase. Auf den Fensterscheiben klebte ein Film aus Sand, Salz und Blättern und man hatte einigen Aufwand zu treiben, um diese Mischung wieder abzuwaschen.
Nach drei Tagen ohne Strom musste ich schließlich die letzten verbliebenen Lebensmittel aus dem Kühlschrank doch wegwerfen. Die Wäsche fing an zu muffeln und ich war daher froh, als mir eine Kollegin, die in der größten Gemeinde der Insel wohnte und als eine der ersten unter uns wieder Strom hatte, anbot, meine Wäsche bei ihr zu waschen. Von ihrem Computer aus war es mir auch erstmals möglich, an die Lieben zu Hause eine Email zu tippen, da im Büro der Server zerstört worden war und mir zu dem Zeitpunkt keiner der Verantwortlichen sagen konnte, ab wann das Internet wieder zugänglich sein würde. Letztlich war es eine lehrreiche Erfahrung für mich, den Tag ohne künstliches Licht und die ganzen anderen mit Strom betriebenen technischen Luxusgüter zu bestreiten. Bereits nach kurzer Zeit fing man wieder an, nach der Uhr der Natur zu leben. Lesen beim Schein einer Kerze oder Taschenlampe war viel anstrengender, man wurde schneller müde und hatte unweigerlich früher das Bedürfnis, ins Bett zu gehen.
Abschließend stelle ich fest, dass Taifun Nr. 14 für mich eine unauslöschliche Erfahrung war. Rückblickend kann ich alle Bewohner der Insel nur bewundern für ihre große Gelassenheit angesichts solcher Naturgewalten, die diese Region mit gnadenloser Regelmäßigkeit heimsuchen und ihre Entwicklung immer wieder zurückwerfen.
(Weitere Informationen zur Insel Miyako und dem Deutschen Kulturdorf Ueno gibt es im Internet unter dem link: http://www.city.miyakojima.lg.jp/site/view/index.jsp)