
Wirtschaftspolitische Rede von Premierminister Shinzo Abe
in der Guildhall der City of London am 19.06.2013
Foto: Cabinet Office
Sehr geehrter Lord Mayor,
verehrte Anwesende,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
es ist mir eine große Ehre, auf Einladung des Lord Mayors, des Bürgermeisters der City of London, hier in der Guildhall zu Ihnen sprechen zu dürfen.
In Japan lebte vor rund hundert Jahren der Finanzexperte Korekiyo Takahashi. Seinen „Auftritt“ hatte er zu der Zeit, als Japan sich der militärischen Bedrohung durch das zaristische Russland stellte. Mein Land hielt es damals für unbedingt erforderlich, dass die Londoner Banken japanische Staatsanleihen zeichneten. Mit dieser wichtigen Aufgabe wurde Takahashi betraut, der sich unverzüglich nach London aufmachte. Bei der Erfüllung seiner Aufgabe erhielt er die großzügige Unterstützung einer bestimmten Person. Wer, glauben Sie, war diese Person? Es war Sir Ewen Cameron, Direktor der Londoner Niederlassung der Hongkong and Shanghai Banking Corporation und niemand anderes als der Ururgroßvater des jetzigen Premierministers David Cameron.
Takahashi bekleidete in den 1920er Jahren sowohl das Amt des Premierministers als auch das des Finanzministers von Japan und war Zeuge der damals in meinem Land aufblühenden Demokratie. 1925 gab es in Japan erstmals Parlamentswahlen, bei denen alle Männer uneingeschränkt wahlberechtigt waren. Das war gerade einmal sieben Jahre später als in Großbritannien. Auf diese erfreulichen Entwicklungen folgten dann die 1930er Jahre, die sich fest im Griff der schweren Weltwirtschaftskrise befanden, in denen aber Takahashi nichtsdestoweniger seine überragenden Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte. Ihm gelang damals die wohl erfolgreichste Umsetzung keynesianischer Politik.
1931, fünf Jahre bevor John Maynard Keynes seine „General Theory“ veröffentlichte, entwickelte Takahashi Maßnahmen, die Keynes bereits vorwegnahmen und mit denen es gelang, Japan noch vor anderen Ländern aus einer tiefen Deflation herauszuführen. Dieses Vorbild meines Amtsvorgängers Takahashi hat mich sehr ermutigt.
Eine Metapher für Deflation lautet, dass die Körpertemperatur kontinuierlich immer weiter sinkt. Wird versäumt, sich der Deflation zu stellen, dann führt dies dazu, dass die Verbraucher kein Interesse mehr daran haben, neue Dinge zu erwerben. Dies liegt daran, dass die Menschen es für das Beste halten, ihr Geld zusammenzuhalten und zu sparen, da die Preise im nächsten Jahr ohnehin niedriger sein werden als in diesem Jahr.
Ich vermute, dass Takahashi sich damals in einer ähnlichen Situation wie ich heute befand. Bei seinem Comeback als Finanzminister im Jahre 1931 ließ er noch am Tag seines Amtsantritts den Export von Gold unterbinden. Wichtig an diesem Schritt war, dass er ihn „noch am selben Tag“ durchführte. Denn es ist unmöglich, die tief sitzende deflationäre Psychologie zu überwinden, wenn man dies nicht entschlossen mit einem einzigen Schritt tut.
Auch ich habe versucht, genau dies zu tun. Um die Erwartungen der Menschen nach einer Verbesserung der Lage zu erfüllen, habe ich es für notwendig gehalten, ein ganzes Spektrum von Maßnahmen auf einmal umzusetzen.
Wir waren bisher nicht in der Lage, die Deflation zu überwinden, weil in Japan der entsprechende starke Wille dazu fehlte. Aber genau dies ist es, was ich in Bezug auf die Führung unseres Landes zurückgebracht habe: starken politischen Willen. Ich möchte Ihnen mit der heutigen Ansprache vor allem eines deutlich machen: nämlich, dass meine Wirtschaftspolitik in jeder Hinsicht durch meinen politischen Willen gestützt wird.
Gereicht es Japan zum Nutzen, dass ich so gehandelt habe? Ich selbst bin davon überzeugt. Aber es nützt auch der Welt insgesamt – ein Japan, das wächst, ist kein überflüssiger Luxus; es ist vielmehr eine Notwendigkeit, ein sine qua non.
Gemessen am nominellen Bruttoinlandsprodukt ist Japan größer als Deutschland und Großbritannien zusammen. Was würde passieren, wenn ein solches Land negatives Wachstum erführe?
Japan ist ein Land, das mit die Verantwortung für eine friedliche und stabile Weltordnung trägt, die sich auf feste Regeln stützt. Für ein solches Land ist es meiner Ansicht nach eine schwere Sünde, wenn es schrumpft.
Die japanische Wirtschaft befindet sich derzeit wieder auf dem Weg der Erholung. Im ersten Quartal 2013 legte das Wachstum auf das Jahr hochgerechnet um 4,1 Prozent zu. Sollte die Wirtschaft meines Landes das ganze Jahr über dieses Wachstum beibehalten, hätte dies dieselben Auswirkungen wie das plötzliche Erscheinen eines Landes, das größer ist als z.B. Israel. Im dritten Quartal 2012 lag die Wachstumsrate in Japan noch bei minus 3,6 Prozent. Damit beträgt die Erholung hin zum Positiven insgesamt sogar 7,7 Prozent. Die Stimmung in Japan hat sich sehr wahrscheinlich wegen der beiden ersten „Pfeile“ zur wirtschaftlichen Erholung verbessert, die ich abgeschossen habe. Diese sind eine offensive Geldpolitik und eine dynamische Haushaltspolitik.
Der wichtigste „Pfeil“ in meinem Arsenal ist jedoch der dritte: meine Strategie für Wachstum. Die Konzepte, die dieser umfassenden Strategie zugrunde liegen, können mit den drei Schlagworten „Challenge“, nämlich das aktive Annehmen von Herausforderungen, „Openness“, die Offenheit gegenüber anderen Ländern, sowie „Innovation“ wiedergegeben werden. Bevor ich Ihnen einen Überblick über die Schlüsselpunkte dieser Strategie gebe, möchte ich Ihnen hier klar und deutlich sagen, dass es für Japan in seiner heutigen Situation – um mit den Worten der verstorbenen Baroness Margaret Thatcher zu sprechen – „keine Alternative“ gibt. Der Grund dafür ist, dass Japan vor großen strukturellen Herausforderungen steht, nämlich erstens die Delation zu überwinden, zweitens seine Produktivität zu verbessern und drittens schließlich die Haushaltsdisziplin zu wahren. Diese drei strukturellen Aufgaben müssen gleichzeitig in Angriff genommen werden. Die notwendige Voraussetzung dafür ist Wachstum.
Ein offenes Japan
Wie können wir nun Wachstum erreichen? Wir werden Japan und seine Märkte öffnen. Dies ist eine Philosophie, der ich mich verpflichtet fühle, seit ich in die Politik gegangen bin. Als ich vor sieben Japan erstmals das Amt des Premierministers antrat, beschleunigte ich die Verhandlungen für den Abschluss eines umfassenden Wirtschaftspartnerschaftsabkommens (EPA) zwischen Japan und den ASEAN. Nun, da ich erneut Premierminister bin, lauteten die allerersten Fragen, die ich zu beantworten hatte, ob Japan sich an dem Abkommen über die Transpazifische Partnerschaft (TPP), bei dem die Vereinigten Staaten im Zentrum stehen, beteiligen soll und ob ich mich für ein EPA mit der Europäischen Union einsetzen soll.
Ablehnende Stimmen waren selbst aus meiner eigenen Partei, der LDP zu hören. Ich habe alles in meiner Macht stehende unternommen, um diese Leute umzustimmen, und ich habe die Entscheidung getroffen, dass Japan sich an den Verhandlungen beteiligen wird.
Das Japan, das ich anstrebe, ist ein Land, das der ganzen Welt offen steht. Für die Wiederbelebung meines Landes ist ein auslösendes Element notwendig, das das alte Japan komplett umgestaltet und ein noch stärkeres „neues“ Japan hervorbringt. Dies ist es, was ich mir von direkten Investitionen aus dem Ausland in Japan erwarte. Bis 2020 werden wir die Direktinvestitionen in Japan durch ausländische Unternehmen auf 35 Billionen Yen ausweiten; das ist das Doppelte des bisherigen Umfangs. Umgerechnet sind dies mehr als 370 Milliarden US-Dollar. Lassen Sie mich hier ein Beispiel nennen: Ein riesiger Markt mit großem Potential für quasi unbegrenzte Innovationen ist dabei, in Japan aufzutreten: der Strommarkt.
Der Auftritt des Strommarktes
Die Katastrophe, die Fukushima so schwer getroffen hat, setzt sich bis heute fort. Ich habe das Gefühl, schier erdrückt zu werden, wenn ich an all die Entbehrungen und Mühsale denke, die die betroffenen Menschen bis heute ertragen müssen. Wenn wir jedoch den Strommarkt reformieren, dann können wir diese schreckliche Krise in eine Chance verwandeln. Diese Überzeugung ist in mir allmählich gewachsen. Wir werden die Kernkraft in Japan zunehmend sicherer machen, während wir uns gleichzeitig für die Förderung des Nichtverbreitungsregimes einsetzen. In beiden Bereichen hat Japan einen der vordersten Plätze inne und es stellt keine Option für uns dar, diese Position aufzugeben.
Gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass Japan auch in der Verantwortung steht, Innovationen im Bereich der Energietechnologie hervorzubringen. Ich denke, dass Japan mehr als jedes andere Land die Verantwortung dafür übernehmen sollte, ein breites Spektrum an Technologien auf dem Gebiet der Energie weltweit zu verbreiten. Mit diesem Kurs wird es Japan möglich sein, der Tragödie von Fukushima einen Sinn im Hinblick auf die Zukunft zu geben.
Im Verlauf des Finanzjahres 2013 wird Japans Solarmarkt seine Position als einer der größten Märkte weltweit wiedererlangen. Es bieten sich uns damit unzählige Möglichkeiten einschließlich Windkraft, Wellenenergie, Biomasse, Wasserstoff und Brennstoffzellen. Wir haben viel aus der Geschichte Europas gelernt, wo in den letzten zwanzig Jahren die Strommärkte liberalisiert und geöffnet wurden, wo Stromerzeugung sowie Netzbetrieb getrennt wurden und wo die nationalen Strommärkte miteinander verbunden und integriert wurden. Auch in Japan habe ich erst vor kurzem entschieden, den Strommarkt zu liberalisieren sowie Stromerzeugung und Netzbetrieb voneinander zu trennen, um so den seit mehr als einem halben Jahrhundert bestehenden Oligopolen ein Ende zu setzen. Es steht außer Frage, dass dies ein breites Spektrum an Innovationen auslösen wird. Wir erhoffen uns davon eine Vielzahl von Chancen, die wiederum ausländische Direktinvestitionen anlocken werden.
Ein Japan, das nach Herausforderungen sucht
Sie werden sich womöglich fragen, was für ein Japan ich mit der aktiven Einladung von ausländischem Kapital und zugleich von an Wissen und Erfahrung reichen humanen Ressourcen aus dem Ausland anstrebe. Es ist ein Japan, das sich Herausforderungen stellt, indem es mutig Risiken auf sich nimmt, während es Innovationen in neuen Bereichen schafft, also genau das, was ich Ihnen eben in Bezug auf unseren Strommarkt erläutert habe. Die Ziele, die wir anstreben, sind beispielsweise neue Business-Chancen. Damit wird Japan auf diesem Gebiet zu den Vereinigten Staaten und Großbritannien aufschließen.
Für den kommenden Herbst stehen zudem wichtige Änderungen beim Steuersystem an. Wir werden diese Steuermaßnahmen als Anreiz dafür nutzen, um Unternehmen den Einstieg in neue Geschäftsfelder zu erleichtern. Dasselbe gilt für Umrüstungen und Umstrukturierungen.
Wir werden die Steuern auf Investitionen senken und damit die Unternehmen ermuntern, höhere Risiken einzugehen und in Einrichtungen sowie Ausrüstungen zu investieren. Wir wollen innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren den Umfang der Investitionen des Privatsektors im Inland wieder auf den Stand von vor dem Lehman-Schock von 70 Billionen Yen bringen; das entspricht mehr als 700 Milliarden US-Dollar.
Sehr geehrter Lord Mayor,
da Sie ihre berufliche Laufbahn bei S.G. Warburg & Co. begonnen haben, können Sie sich wahrscheinlich noch sehr gut an den Beginn der 1980er Jahre erinnern, an die Zeit also, als die Handelsbanken der Londoner City eine Niederlassung nach der anderen in Tokyo eröffneten. Ich möchte überall in Japan eine Euphorie verbreiten, die jene Begeisterung von damals noch übertrifft. Ich bitte Sie, dass Sie junge Menschen dazu ermuntern, nach Japan zu gehen, um teilzuhaben an der großen Wiederbelebung meines Landes.
Ich richte diese Bitte an Sie, weil wir sogenannte „Strategische Sonderzonen“ einrichten wollen, in denen umfassende Deregulierungen stattfinden und die direkt unter meiner Aufsicht als Premierminister stehen. Auf diese Weise wollen wir in Japan Orte schaffen, in denen Kapital und Wissen aus der ganzen Welt zusammenkommen.
Wir werden ein internationales Business-Umfeld gestalten, das gleichwertig neben Städten wie London und New York bestehen kann. Ich möchte Städte schaffen, in denen Technologien, Humanressourcen und Kapital aus aller Welt zusammengebracht werden. Hierfür werden wir unsere Systeme gründlich überprüfen, damit etwa Ärzte mit Spitzenqualifikationen, die nicht japanische Staatsbürger sind, ebenfalls in Japan praktizieren können. Auch soll es Kindern in Japan leichter gemacht werden, internationale Schulen im Land zu besuchen. Wir werden zudem die Regulierungen dahingehend überprüfen, dass die Menschen wieder in die Zentren unserer Städte zurückkehren, um dort zu leben. Wir werden Menschen, Güter und Kapital aus allen Teilen der Welt nach Japan holen und sie dafür nutzen, unser Wachstum zu fördern und darüber hinaus neues Wachstum zu erzeugen. Der Kampf für die Gestaltung eines solchen Japans ist ein Kampf, für den ich mich mit ganzer Kraft einsetzen werde.
Ein Japan, das Innovationen hervorbringt
Wissen Sie, es ist wahrscheinlich die Schuld von Männern, dass Japan in eine derart ernste Stagnation geraten ist. Die Ära, in der Männer mit einheitlichen Denkweisen Japans Wirtschaftsgesellschaft dominiert haben, dauerte einfach viel zu lange. Im Gegensatz dazu sind Frauen in Japan erst viel zu kurz in das Management von Unternehmen eingebunden. Eine wichtige Aufgabe, die ich mir selbst gestellt habe, besteht daher darin, die Kraft, die den Frauen innewohnt, vollständig freizusetzen.
Ich bin fest entschlossen, Frauen dazu zu ermuntern, die unsichtbaren Barrieren, die ihren beruflichen Aufstieg behindern, zu überwinden. Und ich werde die erforderliche Infrastruktur schaffen, um ihnen dabei zu helfen.
So werden wir die Wartelisten für Krippen und Kindertagesstätten abschaffen und die Frauen dabei unterstützen, so oft sie wollen wieder in ihren alten Beruf zurückkehren zu können, den sie zu bestimmten Zeiten verlassen haben.
Meine Entschlossenheit, die Hochschulbildung zu reformieren, speist sich aus demselben Motiv. Innovationen entstehen, wenn neue Denker eine neue Art zu denken hervorbringen. Unsere Erwartungen an Frauen und junge Menschen werden dabei immer größer, je weiter wir mit den Reformen voranschreiten.
Ich möchte, dass mindestens zehn japanische Universitäten unter den besten hundert Hochschulen der Welt zu finden sind. Zunächst werden wir uns dafür einsetzen, die Zahl der ausländischen Fakultätsangehörigen an den Hochschulen zu verdoppeln, an deren Verwaltung die Regierung beteiligt ist. Wir werden umfassende Maßnahmen ergreifen, um das internationale Bewusstsein sowie die Interaktion innerhalb des Bereichs der höheren Bildung zu fördern und mehr junge Menschen ins Ausland zu schicken, damit sie die Welt außerhalb Japans erfahren können. Gleichzeitig werden wir eine große Zahl junger Menschen aus aller Welt nach Japan einladen.
Zusätzlich dazu dürfen wir nicht vergessen, dass Innovationen auch durch die alternde Gesellschaft gefördert werden. Da Japan weltweit einen der vordersten Plätze bei der Alterung der Gesellschaft einnimmt, sind wir im Vergleich zu anderen Ländern in einer glücklichen Position, wenn es darum geht, Dienstleistungen, Industrien und Technologien an eine gereifte Gesellschaft anzupassen.
Wir werden den Markt für Gesundheit und Altenpflege von derzeit rund 42 Milliarden US-Dollar Umfang bis 2020 auf mehr als 106 Milliarden US-Dollar ausweiten. Im selben Zeitraum werden wir auch den Marktumsatz für medizinische Dienstleistungen einschließlich z.B. Medikamente, medizinische Geräte und regenerative Medizin von 127 Milliarden auf fast 170 Milliarden US-Dollar steigern.
Wie Sie sehr wohl wissen, ist bereits eine ganze Reihe europäischer Unternehmen auf diesem Markt aktiv. Diese Akteure bilden ebenfalls ein wichtiges Element in Bezug auf meinen dritten „Pfeil“ für die wirtschaftliche Wiederbelebung.
Ich möchte Japan eine „Wiedergeburt“ ermöglichen, indem ich das Land für die Welt öffne und es in eine Gesellschaft umforme, die sich Herausforderungen stellt, auch wenn diese mit Risiken behaftet sind. Japan soll wieder ein Ort werden, wo Innovationen in großer Zahl entstehen, und zwar durch die Nutzung der Kraft der Frauen, der jungen Menschen und der Menschen von außerhalb Japans. Um hier ein anderes Bild zu verwenden: Ich möchte Japan jetzt so umformen, dass es in dreißig oder vierzig Jahren in der Lage ist, sich für ein Spiel auf dem Centre Court in Wimbledon zu qualifizieren.
In den fünf Jahren seit 2007 hat Japan beim Bruttonationaleinkommen fast 500 Milliarden US-Dollar verloren. Dies bedeutet einen Rückgang in einer Größenordnung, als würde beispielsweise Norwegen oder Polen einfach von der Erdoberfläche verschwinden.
Natürlich ist Japans Steuergrundlage geschrumpft, so dass wir heute verstärkt von Regierungsanleihen abhängig sind. Trotzdem sind wir nicht in der Lage, die Ausgaben der Regierung sicherzustellen. Welche Optionen haben wir also mit Blick auf die Neuordnung unserer öffentlichen Finanzen? Es ist ganz klar: Es gibt keinen anderen Weg als Wachstum.
Es ist unbedingt erforderlich, dass wir unsere Kreditwürdigkeit stärken. Wir müssen der Welt deutlich machen, dass Japan entschlossen einen Kurs der Haushaltskonsolidierung verfolgt, während wir gleichzeitig die Wirtschaft auf den Weg zu einem nachhaltigen Wachstum zurückführen.
Als Erstes kommt also Wachstum - hier haben die „Abenomics“ ihren Auftritt. Als Nächstes kommt die Konsolidierung des Haushalts. Nur auf diese Weise werden wir in der Lage sein, unsere Ziele in Bezug auf das Primärsaldo zu erreichen.
Bis 2015 wollen wir das Defizit beim Primärsaldo der Zentralregierung und der Kommunen - gemessen am BIP - gegenüber 2010 halbieren und spätestens 2020 ein positives Primärsaldo erreichen. Aus diesem Grund stellen die „Abenomics“ sowohl für die Weltwirtschaft als auch für die japanische Wirtschaft eine „Win-Win-Situation“ dar. Und für Japan ist es ebenfalls eine „Win-Win-Situation“, dass es auf diese Weise sowohl wirtschaftliches Wachstum als auch die Konsolidierung seiner Staatsfinanzen erreicht. Um es noch einmal deutlich zu machen: Für Japan besteht die einzige Option darin, dieses Szenario einer doppelten „Win-Win-Situation“ zu verfolgen. Es gibt in der Tat keine Alternative.
Während meiner ersten Amtszeit war ich wegen einer chronischen Darmentzündung namens Colitis ulcerosa gezwungen, von meinem Posten als Premierminister zurückzutreten. Das war 2007. Zwei Jahre später hatte ich das Glück, mit einem neuen Medikament namens Asacol behandelt zu werden. Tatsächlich war dieses Medikament in Europa und anderswo bereits früher als in Japan auf dem Markt. In meinem Land nimmt die Zulassung neuer Medikamente ziemlich lange Zeit in Anspruch. Und selbst wenn ein Arzt in Japan der Überzeugung ist, dass ein bahnbrechendes neues Medikament aus dem Ausland bei seinen Patienten erhebliche Besserung bewirkt, ist er nicht in der Lage, dieses Medikament zu verschreiben. Dieses Phänomen ist in Anlehnung an den Begriff „Jetlag“ als „Medikamenten-Lag“ bekannt. Auch in diesem Bereich bestehen also Regulierungen, die tiefgreifend reformiert werden müssen. Hätte sich das Erscheinen des Medikaments Asacol in Japan noch länger verzögert, wäre es gut möglich, dass ich heute nicht vor Ihnen stünde. Aus diesem Grund halte ich es sowohl für meine Aufgabe als auch für meine Bestimmung, das Leben von Patienten, die unter schweren Krankheiten leiden, wiederherzustellen und zu bereichern.
Darüber hinaus halte ich es ebenfalls für meine Aufgabe und meine Bestimmung, die Kraft von Japan als Nation wiederherzustellen und zu bereichern. Ein starkes Japan wird die Verantwortung für die öffentlichen Güter der Staatengemeinschaft wahren und weiter kultivieren. Ein starkes Japan wird zu Frieden, Stabilität und Wohlstand in allen Regionen beitragen, mit denen es durch Schifffahrtsrouten vom Indischen Ozean bis zum Pazifik verbunden ist. Ein starkes Japan wird die weltweite Armut bekämpfen, es wird sich gegen die Verletzung der Rechte von Kindern und Frauen einsetzen und es wird alles in seinen Kräften Stehende tun, um die Verbreitung von Krankheiten sowie die Zerstörung der Umwelt zu verhindern.
Es sind diese Überlegungen in Bezug darauf, wie ich mir Japan wünsche, die mich dazu inspiriert haben, es noch einmal zu versuchen. Und nun, da ich diese zweite Chance als Premierminister erhalten habe, sind diese Überlegungen nur noch stärker geworden.
Meine Wachstumsstrategie ist nicht bloß eine Art Aufsatz, den irgendwelche Beamten verfasst haben. Sie ist vielmehr etwas, hinter dem ich voll und ganz stehe und das ich gewissenhaft umsetzen werde. Ich möchte Sie bitten anzuerkennen, dass ich umfassende Maßnahmen ergriffen habe, wie sie bisher niemand zuvor unternommen hat, um das erforderliche politische Kapital zu sichern, mit dem diese Strategie umgesetzt werden kann. In den kommenden Monaten und Jahren werde ich meine ganze Kraft für dieses Ziel aufwenden.
Seitdem ich zum zweiten Mal Premierminister bin, habe ich eines der vier Wochenenden im Monat dazu verwendet, die vom schweren Tsunami getroffenen Regionen im Nordosten Japans zu besuchen, um mir einen Überblick über die aktuelle Situation vor Ort zu verschaffen. Ein weiteres Wochenende verwende ich darauf, andere Regionen in Japan zu besuchen, um die Potenziale meines Landes auf den unterschiedlichsten Gebieten auszuloten. Und ein drittes Wochenende im Monat nutze ich dafür, auf Fragen der Medien zu antworten und die Ansichten einer Vielzahl von Menschen zu hören. Das letzte Wochenende schließlich dient dazu, ins Ausland zu reisen und andere Länder zu besuchen.
In den sechs Monaten seit meinem Amtsantritt im Dezember letzten Jahres habe ich bereits dreizehn Länder besucht, um Japan sowohl politisch als auch wirtschaftlich zu präsentieren. Wenn ich von dieser Reise nach Japan zurückkehre, werde ich mich auf die anstehende Kommunalwahl in Tokyo sowie auf die Wahl zum Oberhaus vorbereiten. Ich hoffe, dass meine Partei, die LDP, aus beiden Wahlen als eindeutiger Sieger hervorgehen wird. Das ist mein erklärtes Ziel. Aus diesem Grund besteht für uns auch so wenig Zeit, die Reformen umzusetzen.
Was werde ich nach den Wahlen tun? Ich habe den Zeitraum der nächsten drei Jahre zu einer Periode der intensiven Reformen bestimmt. Ich werde mich in dieser Zeit mit all meiner politischen Kraft für dieses Ziel einsetzen. Japans Regulierungen und Systeme sind wie ein solider Fels. Ich möchte als ein Bohrer fungieren, der diesen soliden Felsen durchdringt. Sollte es mir nicht gelingen, Japan diesmal zu einem großen sowie starken Land zu machen und es so an die nächste Generation zu übergeben, dann hätte mein bisheriges Leben keinen Sinn gehabt.
Der Golfplatz, der bis gestern noch Schauplatz des G8-Gipfels in Lough Erne war, wurde von dem großen Golfer Nick Faldo so angelegt, dass er die Golfspieler bis zum letzten Loch, dem 18., auf die Probe stellt, das ein Par-3-Loch ist. Sollte der Ball auch nur ein wenig nach links gehen, liegt er genau vor der Hotelterrasse. Und rechts lauert das Wasser und Schilf des Sees. Es gibt daher nur einen Weg vorwärts: Man muss den Ball entschlossen spielen und genau auf die Mitte zielen.
Ich habe meinen Amtskollegen beim G8-Gipfel gesagt, dass dieser Golfplatz wie ein Test für Staatschefs aus aller Welt angelegt ist: Die einzige Option, um die Schwierigkeiten zu überwinden, besteht in dem Treffen mutiger Entscheidungen sowie in deren entschlossener Ausführung.
Ich hoffe, dass Sie auch in Zukunft in Japan investieren werden, und ich möchte diese Rede mit der Bitte an Sie beschließen, sich zusammen mit mir für ein starkes Japan einzusetzen.
Vielen Dank.